Im Jahr 2016 wurde Ahmed in erster Instanz wegen der Proteste gegen die Grenzschließungen am serbisch-ungarischen Grenzübergang Röszke im September 2015 wegen “Terrorismus” zu 10 Jahren Haft verurteilt. Seit dem 8. Januar 2018 wird der Fall von Ahmed H. im Amtsgericht Szeged (Ungarn) in der Revisionsrunde wieder aufgenommen.
Grenzschließung in Röszke. Widerstand. Repression.
Am 15.September 2015 riegelte die ungarische Regierung den zu der Zeit hoch frequentierten serbisch-ungarischen Grenzübergang Röszke auf der Balkanroute mit einem Stacheldraht bewehrten Zaun und massiver Polizeipräsenz ab. Am Folgetag, dem 16.September 2015, kam es zu einem Protest der vielen Menschen, die ihren Weg Richtung Norden fortsetzen wollten und nun festsaßen.
Im Rahmen dieses kollektiven Widerstandes gegen die Abschottung durch den von Ungarn errichteten und von der EU-Politik unterstützten Grenzzaun, wurden elf Personen von der ungarischen Polizei festgenommen und mit dem Vorwurf des „illegalen Grenzübertritts“ und „Vandalismus“ inhaftiert. Zehn dieser als „Röszke 11“ bekannten Angeklagten wurden bereits 2016 zu ein bis drei Jahren Haft verurteilt und sind nun wieder frei. Lediglich Ahmed H., der seine Eltern über die Balkanroute begleiten wollte, jedoch selber bereits seit mehreren Jahren in Zypern lebt, sitzt seit nun mehr als zweieinhalb Jahren im Hochsicherheitstrakt eines Budapester Gefängnisses. Er muss sich gegen den Vorwurf des Terrorismus rechtfertigen – allein und weit entfernt von seiner Frau und seinen Kindern. Die rechte Fidesz-Regierung Ungarns, mit Orban als Staatsoberhaupt, nutzt den Prozess gegen Ahmed H., um ihre ausschweifende rassistische Propaganda gegen Geflüchtete im Land zu untermauern. Als Schauprozess mit nationaler Medienwirksamkeit wird an Ahmed H. ein Exempel statuiert und er selber zum „Prototypen“ eines vermeintlich „gefährlichen muslimischen Flüchtlings“ stilisiert, der eine Terrorgefahr für den ungarischen Staat darstellt.
Wie stark politisch der Prozess aufgeladen ist, zeigte sich allein dadurch, dass die Unterstützer*innen von Ahmed monatelang nach einem Anwalt suchen mussten, der ihn verteidigen konnte. Nahezu unmöglich ein*e Anwält*in zu finden, die den Mut aufbringen konnte, eine Person zu verteidigen, die wegen Terrorismus angeklagt wird. Dazu noch im Kontext von Migration – in einem Staat, der seinen Bekanntheitsgrad in den letzten Jahren vor allem durch Diskriminierung Geflüchteter, diversen Strategien der Abschreckungs- und Abschottungspolitik sowie offenkundiger rassistischer Hetze bis hin zu staatlich ausgebildeten und bewaffneten „Border Hunters“ erlangt hat. Der öffentliche Druck ist immens, sodass selbst das internationale Helsiki Committee ablehnte, Anwält*innen für Ahmed zu stellen. Schließlich wurde ein Anwalt gefunden, der unglaubliche 20 000€ verlangt und Ahmed im Prozess eher mäßig als gut unterstützt. Im Folgenden werden einige Erlebnisse von den Prozesstagen geschildert.
Erster Prozesstag: 08. Januar 2018
Am ersten Prozesstag waren viele internationale Unterstützer*innen und Presse vor Ort, vor allem ungarische Staatsmedien. Ohne Registrierung war es schwer in den Gerichtssaal zu kommen. In Fußfesseln wurde Ahmed H. um kurz nach 9:00 Uhr morgens am Montag von zwei vollvermummten Polizisten in den Gerichtssaal geführt. Um das rechte Handgelenk trug er eine Handschelle mit befestigter Leine, an der einer der Beamten ihn permanent festhielt. Jegliche Interaktionsversuche zwischen Ahmed und seinen Unterstützer*innen wird von den Polizist*innen vor und nach dem Prozess unterbunden – und sei es nur der Austausch eines Lächelns. Bei solchen Versuchen wurde Ahmed sofort von den Polizisten außer Sichtweite gezogen. Der Richter fokussierte die Aussagen von Ahmed H. und befragte ihn zur Situation an der Grenze; wo die Grenze angefangen habe, was er gemacht oder zur Polizei gesagt habe, ob er Steine geworfen habe, was nicht bewiesen werden konnte. Aus Ahmeds Perspektive wurde klar, dass die Situation sehr unübersichtlich war und die Ansagen der Polizei schwer zu verstehen waren. Er betont, die Polizei nicht bedroht, sondern im Gegenteil als Kommunikationsperson fungiert zu haben. Ahmed H. habe die Polizei gebeten, die Menge wegen der vielen Kinder und kranken Menschen passieren zu lassen. Anschließend wurden Aussagen von Polizist*innen vorgelesen, die am 16. September 2015 am serbisch-ungarischen Grenzübergang Röszke eingesetzt waren. Diese waren in großen Teilen widersprüchlich. Viele hatten Ahmed nicht gesehen bzw. konnten zu den Vorwürfen gegen ihn keine Aussagen machen.
An diesem ersten Prozesstag stellte die Regierung eine Homepage online, auf der stand „Ahmed H. ist ein Terrorist“.
Zweiter Prozesstag: 10. Januar 2018
Auch am zweiten Prozesstag hatten sich im Gerichtssaal etwa 25 internationale Unterstützer*innen eingefunden – viele davon Mitglieder der „Free the Röszke 11- Kampagne“ sowie Amnesty International zur kritischen und solidarischen Prozessbegleitung und –beobachtung. Im Zentrum des zweiten Prozesstages, der mit Pausen über sechs Stunden andauerte, standen Analysen eines vierstündigen Videos vom 16. Septembers 2015 am serbisch-ungarischen Grenzübergang Röszke. Der Richter ging das Video akribisch durch, zeigte Szenen in Slow-Motion, gezoomt oder angehalten. Gestoppt wurde das Video allerdings vor dem polizeilichen Angriff auf die Protestierenden, die sich in der weiteren Chronologie des Tages abspielten. Der Richter führte während des gesamten Prozesstages durch das Beweismaterial, was eigentlich Aufgabe der Staatsanwaltschaft gewesen wäre. Die offensichtliche Motivation des Richters und Staatsanwaltes war Ahmed als Rädelsführer des Protests und alleiniger Urheber der Auseinandersetzungen zu identifizieren bzw. bei ihm vermeintliche Anzeichen und Verhaltensweisen zu erkennen, die auf „Terrorismus“ hindeuten sollten. Durch immensen Druck und endlosem Nachhaken versuchten sie ihn dazu zu bringen sich auf dem Video als Person, die Steine werfen soll zu identifizieren.
Am Vortag der Videoaufnahmen – am 15. September 2015 – war der Grenzübergang Röszke durch einen Zaun von ungarischer Seite geschlossen worden, sodass tausende Menschen auf der Flucht auf der serbischen Seite stecken blieben und ihren Weg nicht fortsetzen konnten. Auf den tonlosen Videoaufnahmen konnte man sehen, wie sich gegen Mittag des 16. Septembers zuerst verhalten und dann immer stärker Protest auf serbischer Seite formierte. Auf ungarischer Seite – hinter dem neuen Grenzzaun – stand eine lose Polizeikette, die sich verdichtete, als die Protestierenden gegen das Tor im Zaun drückten und Transparente hoch hielten. Die Polizist*innen setzen ihre Helme auf. Ein Übersetzer vermittelte zwischen Polizei und Protest, im Laufe des Protestes wurden Wasserwerfer und Räumpanzer an das Grenz-Tor gefahren.
Der Richter und der Staatsanwalt interpretierten Handzeichen der Protestierenden (nicht Ahmed) in dem Sinne, dass Menschen, die mit ihren Fingern ein „V“ zeigten oder eine offene Hand, also eine „5“, dass diese Handzeichen ein Aufruf bzw. ein Countdown an die Menschenansammlung bzw. Polizei bedeuten sollten, wie viele Minuten es noch seien bis die Grenze „gestürmt“ werden sollte. Anzumerken ist hier, dass das Fehlen des Tons bei den Videoaufnahmen keinerlei ganzheitliche Abbildung der Situation darstellt und außerdem Menschen – unabhängig von Nationalität und weltweit – Handgesten zur Kommunikation verwenden.
Lange Zeit war Ahmed H. auf den Videoaufnahmen nicht zu sehen. Als er zu sehen war, verhielt er sich eher unauffällig. Dennoch stoppte der Richter das Video immer wieder, um Ahmed an der „Leine“ nach vorn führen zu lassen und ihm heran gezoomte Aufnahmen lange zu zeigen, bis er selber nicht mehr sicher sagen konnte, ob er auf dem Bild zu sehen sei oder nicht. In den Szenen, in denen Ahmed zu erkennen war, machte er beruhigende Gesten zur Menschenmenge und zur Polizei. Szenen, in denen er angeblich Steine werfen sollte, waren verwischt von Tränengas und Wasserwerfer und sehr unscharf.
Später am Nachmittag des 16. Septembers hatten es die Protestierenden geschafft gemeinsam und friedlich das Tor des Zauns zu öffnen, woraufhin sich schwer gepanzerte Polizei mit Helmen und Schilden positionierte, massiv Tränengas in die Menschenmenge sprühte und Wasserwerfer einsetzte. Nun standen sich Polizei und Protestierende Auge in Auge gegenüber.
Als später in den Videoaufnahmen ein Mikrofon erschien, das von verschiedenen Menschen in der Menge umher gereicht wurde, versuchte der Richter erneut zu identifizieren, ob Ahmed H. in das Mikrofon spricht. Der Fakt, dass Ahmed durch das Mikrofon versucht hat, die Menschenmenge zu beruhigen und Panik zu verhindern, wie er es selber im Prozess sagte, fiel wenig ins Gewicht – im Gegenteil schien das tonlose Video für den Richter und den Ankläger eines der vielen isolierten Einzelteile zu sein, die als Beweise für Terrorismus verpackt werden können.
Der Prozesstag war lang und anstrengend. Ahmed H. sitzt seit mehr als zweieinhalb Jahren in Isolationshaft in Budapest und wirkte erschöpft. Nach vier Stunden Videoanalyse und Befragungen fragte Ahmed: „What kind of terrorist am I, who is doing nothing for hours?“ – während Richter und Ankläger unaufhörlich versuchten aus einzelnen Momentaufnahmen, Verhaltensweisen oder Aussagen zusammenbasteln, bis daraus das Bild eines Terroristen gezeichnet werden kann.
Soliaktion: Flashmob in Szeged
Am Donnerstag, den 11. Januar 2018, gab es einen spontanen Flashmob in Szeged in Solidarität mit Ahmed. Die internationalen Unterstützer*innen machten mit Flyern, Transparenten und Redebeiträgen in Ungarisch auf die Situation von Ahmed und den Prozess aufmerksam. Nach wenigen Minuten wurden sie von einem massiven Polizeiaufgebot u.a. Zivilpolizist*innen mit Nazi-Klamotten eingekreist und mehrere Stunden festgehalten. Nach einer Personalienfeststellung und dem Einzug aller Flyer und Transparente sowie der Lautsprecherbox, wurden sie schließlich freigelassen, mit der Ansage, dass nach dem/der „Anführer*in“ des Protestes gesucht werde. Dieser Vorfall war nicht der erste dieser Art und zeigt einmal mehr, dass auch die bloße Unterstützung von Ahmed und der Widerstand gegen die Politik der ungarischen Regierung massiv kriminalisiert werden. Am gleichen Abend fand eine Infoveranstaltung von Menschen der FreetheRöszke11-Kampagne in einem Szegeder Café für lokale und internationale Interessierte statt.
Dritter Prozesstag: 12. Januar 2018
Am dritten Prozesstag patroullierten bereits morgens Polizisten vor dem Gerichtsgebäude, die Unterstützer*innen wurden im Gebäude von Zivilpolizist*innen kontrolliert und während dem Prozess im Gerichtssaal abgefilmt. Die Atmosphäre war angespannt. Nachdem Ahmed H. hereingebracht worden war, zeigte der Richter verschiedene kürzere Videos. Auf diesen war Ahmed zu hören, wie er – nachdem die Polizei sich aus der Offensive zurückgezogen hatte – zu den Menschen sagt „Lets clean this space“ und zur Polizei „Thank you“ sagte, ein verletztes Mädchen auf die ungarische Seite trägt und Familien half. Der Richter skizziert es als „auffällig“, dass Ahmed in einer weiteren Videosequenz zu erkennen ist, wie er sich auf den Boden bückt – „I was cleaning“, antwortet Ahmed daraufhin, was er zuvor durch das Megafon gesagt hatte. Auch hier brach das Video ab bevor zu sehen war, wie brutal die Polizei auf die Menschen losstürmte, einprügelte und sie wegschleifte, die nach dem Rückzug der Polizei die ungarische Seite der Grenze betreten hatten.
Grundsätzlich waren in allen Videosequenzen, in denen Ahmed zu sehen war, vor allem seine Bemühungen zu erkennen: einen Dolmetscher zu bekommen, mit der Polizei zu verhandeln, die Menge zu beruhigen oder es waren Sätze zu hören wie „We want only peace“. Auch die Auseinandersetzungen mit der Polizei entstanden erst, nachdem die Menschen stundenlang ausharrten und die Polizei anfing die wartenden und protestierenden Menschen mit Wasserwerfer und Tränengas anzugreifen.
Nach einigen Pausen wurde der Prozess überraschend gegen Mittag beendet und zwei weitere, letzte Prozesstermine für den 14. und 19. März angesetzt. Beim Herausgehen konnten die Unterstützer*innen Ahmed einige Dinge zurufen, vor dem Gericht wurde eine Unterstützerin von Zivilpolizisten herausgezogen, kontrolliert und abfotografiert.
Schlussfolgernd zeigt sich anhand der aktuellen Prozesstermine und den Befragungen, dass dieses Verfahren kein faires und ergebnisoffenes Verfahren ist. Der Grundstimmung gegen Ahmed H. seitens des Gerichts ist in den Befragungen und Beweisaufnahmen voreingenommen und feindlich. Außerdem ist der politische Druck auf das Gericht groß, ihn erneut als „Terroristen“ zu verurteilen, insbesondere vor dem Hintergrund, dass am 8. April 2018 die ungarischen Parlamentswahlen anstehen. Letzteres lässt vermuten, dass Ahmeds Fall politisch weiterhin instrumentalisiert werden wird.
Ahmed H. soll auch in Zukunft nicht allein stehen und wird weiterhin solidarisch in den folgenden Gerichtsprozessen sowie während seines Gefängnisaufenthaltes begleitet und unterstützt so gut es geht. Daran können sich alle beteiligen!
Schreibt Briefe an Ahmed:
Verein zur Förderung feministischer Projekte
Kleeblattgasse 7
1010 Vienna
Austria
Spendet für die Solidaritäts-Kampagne:
Empfänger: Rote Hilfe e.V. Ortsgruppe Frankfurt
IBAN: DE24 4306 0967 4007 2383 90
BIC: GENODEM1GLS
Betreff: Röszke 11
Mehr Infos:
www.cantevictsolidarity.noblogs.org
www.freetheroszke11.weebly.com
www.helsinki.hu/en