[Montenegro] Transit-Land auf der „neuen“ Route // 24. Oktober 2018
Anfang des Jahres 2018 scheint sich eine „neue Route“ von Griechenland aus in Richtung Norden etabliert zu haben. Nachdem 2016 zehntausende Menschen nach dem EU-Türkei-Deal in Camps überall in Griechenland festsaßen und ohne Perspektive warten mussten, gehen die Menschen inzwischen auch weiter im Westen über den bergigen Weg durch Albanien und Montenegro bis nach Bosnien und Herzegowina. Alle diese Länder sind keine Mitglieder der EU. Die Geografie ist geprägt von Gebirgen und Wäldern und nur sehr mühselig zu Fuß zu durchqueren. Trotzdem kommen neben mehrheitlich alleinreisenden jungen Menschen auch Familien über diese Route, viele von ihnen legen den ganzen Weg zu Fuß zurück.
In der Mitte dieser neuen Strecke liegt das kleine Land Montenegro. Die Flüchtenden kommen hier meistens im Süden von Albanien aus über die Grenze in der Nähe der Hauptstadt Podgorica. Der Staat und die Regierung haben quasi keine Erfahrung mit einem eigenen Asylsystem. Allerdings will auch niemand in Montenegro Asyl beantragen, sondern von hier aus nur weiter Richtung Norden. Camps für Flüchtende gibt es dementsprechend nur in der Hauptstadt Podgorica. Uns wurde berichtet, dass es hier zwei unterschiedliche Camps geben soll: ein offenes, das jederzeit wieder verlassen werden kann für Familien; und ein geschlossenes Camp für alleinreisende Männer. Deswegen lassen sich viele nicht in Montenegro registrieren. Auch in Montenegro werden anscheinend von Flüchtenden die Fingerabdrücke bei der Registrierung abgenommen.
Während Flüchtende uns die gesellschaftliche Stimmung in Albanien durch die lokale Bevölkerung als sehr solidarisch beschrieben haben, scheint sich die Gesellschaft in Montenegro gegenüber dem Thema eher desinteressiert zu verhalten. Auch hier gibt es wohl den gängigen, durch antimuslimischen Rassismus geprägten Mediendiskurs und die Angstmache vor „Terrorist_innen“. Da Montenegro nur eine Durchgangsstation der Flüchtenden ist, scheint dieser Diskurs aber nicht durchzuschlagen.
Stattdessen gibt es in dem ganzen Land nahezu keine Hilfsangebote für Menschen auf der Flucht. Weder der UNHCR noch große NGOs sind anscheinend in sichtbarem Maßstab aktiv. Auch gibt es kaum Orte, an denen sich viele Flüchtende gleichzeitig aufhalten. Wenn überhaupt bekommen Menschen also Unterstützung durch die lokale Zivilgesellschaft. Von Podgorica können sie ohne Probleme mit dem Bus oder dem Zug in Städte nahe der bosnischen Grenze fahren, z.B. nach Niksic oder nach Pljevlja im Norden. Durch die letztere Stadt sind nach Einschätzung der lokalen Organisation Bona Fide seit Februar 2018 zwischen 1200 und 2000 Menschen durchgereist.
Bona Fide ist eigentlich eine feministische Organisation, die sich aus der Frauenselbstorganisierung gegen den jugoslawischen Bürgerkrieg in den 1990er Jahren gegründet hat und danach gegen häusliche und sexualisierte Gewalt eingesetzt hat. Sie betreibt in Pljevlja ein Safe-House und eine Art soziales Zentrum. Seit im Februar die ersten Flüchtenden durchreisten und seitdem immer neue kamen, unterstützen sie diese. Teilweise haben in dem kleinen Haus bis zu 70 Menschen gleichzeitig übernachtet, erzählten uns die Aktivist_innen von Bona Fide. Hier bekommen die Menschen einen Schlafplatz, zu Essen, sanitäre und medizinische Versorgung und vor allem ein warmes und herzliches Umfeld. Wer bei Bona Fide keinen Platz findet, übernachtet in Pljevlja in einem kleinen Hotel. Teilweise werden Leute dabei wohl auch von der lokalen Regierung unterstützt. Oder Leute bleiben im kleinen Park nahe des Busbahnhofes.
Von hier aus versuchen die meisten über die Grenze nach Bosnien zu laufen. Das ist ein schwerer und auch ein gefährlicher Weg. Eine Aktivistin von Bona Fide, die ihr Leben lang in Pljevlja gewohnt hat, erzählte uns, dass sie noch nie in den Wald an der Grenze gelaufen ist: Dort sind Gebiete seit dem jugoslawischen Bürgerkrieg nach wie vor vermient – nicht alle Mienenfelder sind gekennzeichnet. Die Berge an der Grenze sind teilweise bis zu 1300 Meter hoch. Auf der bosnischen Seite der Grenze liegt die Teilrepublik Srpska, in der die lokale Bevölkerung weitgehend feindselig gegenüber Geflüchteten eingestellt ist. Viele Menschen rufen die Polizei, wenn sie Flüchtende entdecken. Andererseits gibt es auch hier viele Menschen, die alltäglich und spontan Flüchtende unterstützen. Trotzdem müssen Flüchtende eine weite Strecke möglichst ungesehen laufen – denn wenn sie von der Polizei entdeckt werden, werden sie in der Regel ohne weiteres nach Montenegro zurück geschoben. Ungesehen zu bleiben ist aber nicht ganz einfach, denn nach dem hinter dem Wald müssen die Menschen über den breiten Fluß Drina und die dahinter gelegene Bundesstraße kommen.
Werden sie doch von der Polizei entdeckt, werden sie in meistens innerhalb von einem Tag zurück an die Grenze gebracht. Oft werden sie einfach irgendwo ausgesetzt und müssen von dort zurück nach Pljevlja laufen. Teilweise werden sie im Dreiländereck Bosnien / Montenegro / Serbien auch einfach an der serbischen Grenze ausgesetzt. Uns wurden Videos gezeigt, in denen zu sehen ist, wie Flüchtende von der Bosnischen Polizei in alten Hausruinen auf dem nackten Betonboden schlafend über Nacht festgehalten wurden.
Anders als bei den Berichten über Push-Backs von Kroatien nach Bosnien werden die Leute aber bei den Push-Backs aus Bosnien nach Montenegro allerdings nicht geschlagen. Ihnen werden auch keine persönlichen Gegenstände oder die Papiere abgenommen. In der Regel werden sie einfach direkt wieder nach Montenegro zurück geschoben – und versuchen es (nach einer Pause) erneut.
Insgesamt ist die Situation in Montenegro nicht so sehr wie in Bosnien durch das Feststecken von Flüchtenden geprägt, sondern durch eine sehr hohe Mobilität. Leute kommen von Griechenland über Albanien und gehen nach Bosnien, fahren von der Hauptstadt Podgorica in die Grenzstädte und wieder zurück und reisen teilweise, um wieder Kraft zu sammeln, wieder zurück nach Griechenland. Für den Großteil der Menschen stellt Montenegro dadurch eine Station auf ihrer Strecke Richtung Norden dar, die zu durchqueren nicht den schwierigsten Teil der Route darstellt. Wenn der Herbst und der Winter kommen, wird die Durchreise durch das bergige Land zunehmend schwerer werden. Ab Oktober, so erzählen uns die lokalen Aktivist_innen hier, fällt normalerweise der erste Schnee.