„Free the Röszke Eleven“
Die Bedeutung der Röszke-Verhandlungen im Kontext der europäischen Grenzpolitik
Es ist Montag, der 27. Juni 2016 und wir stehen in Szeged vor einem Gerichtsgebäude. Die Sonne scheint, es ist warm, doch uns allen ist etwas mulmig. Wir sind zu fünft angereist, um an der Verhandlung teilzunehmen. Wir werden den Gerichtssaal nicht nur mit diesem mulmigen Gefühl verlassen, sondern mit Wut, Entsetzen, Fassungslosigkeit und Traurigkeit.
(N., ein Aktivist in Rückblick auf den Prozess)
Der Kontext: Sommer der Migration – die ungarische Regierung versucht ihre Souveränität wiederzuerlangen
Es war eine ganze Reihe von Entscheidungen, die den sogenannten Sommer der Migration konstituiert und zur Etablierung des ‚Humanitären Korridors‘ im Jahr 2015 geführt hat. Getroffen wurden diese von verschiedenen Regierungen Europas auf der Grundlage, dass sich Menschen über die ‚Balkanroute‘ bewegen.
Am 18. Juni 2015 hat die mazedonische Regierung ein Gesetz verabschiedet, dass Menschen erlaubt, innerhalb von 72 Stunden das Land legal zu durchqueren. Dieses Gesetz wurde von der serbischen Regierung, die das Vorgehen schon Jahre zuvor zur Praxis hatte, übernommen. Als Konsequenz dieser Gesetze ergibt sich, dass der Bewegung von tausenden Menschen auf dieser Route ein legaler Rahmen gegeben wurde. Eine weitere Auswirkung war, dass die Route auch für Menschen zugänglich wurde, die zuvor aufgrund ihrer persönlichen Möglichkeiten, finanziellen Ressourcen oder wegen anderer Gründe von diesem Weg ausgeschlossen wurden.
Waren es zuvor hauptsächlich junge Männer, die das Risiko aufnahmen, ihren Lebensort zu verlassen, um nach einem neuen Leben für sich und ihre Familie zu suchen, konnten dank der Veränderungen im Sommer 2015 nun auch viele andere Menschen ihr Recht auf Bewegung in Anspruch nehmen. Beispielhaft für diese Menschen stehen Fadavy Ghazy, Ahmad H. und die anderen neun Personen der sogenannten ‚Röszke Eleven.‘
Mit der steigenden Zahl von Personen, die sich von Griechenland über Mazedonien und Serbien bewegten, kam es zu einer Ansammlung von Menschen in Budapest. Von hier aus reisten sie mit Hilfe von Schmugglern nach Österreich, Deutschland, Skandinavien oder in andere nord- oder westeuropäische Staaten weiter. Als Reaktion auf die irreguläre Migration, diese hatte bereits Ende 2014 begonnen, entschied die rechts-konservative Regierung Ungarns unter Führung von Premierminister Viktor Orbán, einen Zaun entlang der gesamten Grenze zwischen Ungarn und Serbien zu bauen (später auch entlang der Grenze zu Kroatien). Dennoch war es für die Menschen während der Bauphase möglich, die Grenze von Serbien nach Ungarn einfach zu übertreten.
„Hunderttausende Menschen waren bereits durch Ungarn gereist, als im Herbst 2015 der Zaun fertiggestellt wurde. Jeden Tag gingen tausende Menschen über die Grenze und die ungarischen sowie die internationalen Medien berichteten, dass die Fidesz Regierung unfähig sei, mit der Situation umzugehen. Dies gab den Ausschlag für die Regierung, die Einreise nach Ungarn zu kriminalisieren“ (Migszol 28.06.2016).
Eine wichtige Hintergrundinformation ist, dass die physische Schließung der Grenze durch die Fertigstellung des Zauns mit der Einführung des neuen Asylgesetzes, das den illegalen Grenzübertritt nach Ungarn zu einem Verbrechen macht, Hand in Hand geht. Die erste Änderung des Gesetzes trat im August in Kraft und die zweite Änderung am 15. September 2015. Also am gleichen Tag, an dem die gesamte Grenze mit NATO-Draht verschlossen wurde. „Der Weg über die Grenze, entweder zu Fuß, den tausende Menschen gegangen sind, oder durch Klettern über den Zaun oder durch Kriechen unter dem Zaun war den vorigen Tag noch möglich, aber ab dem nächsten Tag illegal“ (Migszol 28.06.2016). Von da an beträgt die grundsätzliche Strafe für den illegalen Grenzübergang nach Ungarn ein bis drei Jahre Gefängnis, ein bis fünf Jahre, wenn das Verbrechen während eines Aufstandes stattfand oder Waffen getragen wurden und zwei bis acht Jahre, wenn beide Punkte zutreffen.
Die Horgoš-Aufstände
Es ist wichtig anzumerken, dass die meisten Menschen, die am 14. September an der Grenze ankamen, keine Gelegenheit hatten zu erfahren, was von der Regierung entschieden wurde und dass die Grenze sowohl rechtlich als auch durch einen Zaun geschlossen wurde. Schlimmer als dieser Punkt sind jedoch die individuellen Auswirkungen: Nur weil sie ein paar Tage oder auch nur Stunden zu spät angekommen sind, haben sie keine Möglichkeit, die Grenze legal zu übertreten. Die Routine, die tausende Personen, Freunde, Verwandte zuvor genutzt haben, gibt es nicht mehr. Im Gegenteil treffen sie auf eine geschlossene Grenze, bewacht von der Grenzpolizei, und werden von dort weggeschickt.
„Die Menschen sind dann zum zweiten Röszke-Grenzübergang gegangen. Dieser wurde zuletzt auf dramatische Weise geschlossen, indem die ungenutzten Gleise mit einem ‚Mad Max‘-Zug blockiert wurden. Die Spannung in dieser Situation nahm stark zu und für die Personen auf der serbischen Seite des Zaunes gab es keine rechtlichen Informationen. Junge und alte Personen, kranke, allein Reisende und Familien warteten, als die Situation anfing zu eskalieren (Migszol 28.06.2016).
Insgesamt dauerte der Protest drei Tage und steigerte sich innerhalb dieser Zeit. Grundsätzlich standen die Menschen einfach vor dem Zaun und hofften, dass er wieder aufgemacht wird. Sie riefen Slogans, hielten Banner hoch und redeten mit der Polizei. Nur in den letzten Zügen eskalierte der lange Protest. Eine Aktivistin von No Border Serbia, die während dieser Zeit in Horgoš war und die Proteste miterlebt hat, berichtet von ihren Erinnerungen:
„Der Protest war die ganze Zeit über friedlich. Vor dem Zaun warteten Familien, Kinder und Männer für viele Stunden. Es war sehr heiß an diesem Tag und nach zwei oder drei Stunden Protest gab die ungarische Polizei den Menschen zwei Flaschen Wasser. Was danach passierte, war verrückt. Die Menschen haben die Wasserflaschen zurückgegeben und gesagt, ‚das ist nicht das, was wir brauchen.‘ […] Am zweiten Tag begann der Protest sehr früh morgens. Ungefähr 5000 Personen waren in der Grenzregion, aber nicht alle nahmen an dem Protest teil. Es waren etwa 300 Personen, die friedlich demonstrierten und durch ein Megafon sprachen: ‚Wir brauchen nichts. Lasst uns einfach rein. Es gibt viele Familien und Kinder. Bitte lasst uns passieren.‘ et cetera. Der Protest dauerte bis spät in die Nacht und wir konnten nur zwei oder drei Stunden schlafen. Am dritten Tag des Protests war die ungarische Grenzseite vollkommen militarisiert. Dort waren Panzer, Wasserwerfer, Antiterror-Einheiten … es war schrecklich! Man konnte richtig sehen, was dort vor sich ging und die Protestierenden unterschätzten das. Sie haben wirklich geglaubt, dass die Grenze zu einem bestimmten Zeitpunkt aufgemacht wird, da 5000 Menschen davor warteten. Was man in den Videos auch sehen kann, dass Menschen anfangen zu lachen und Selfies machen, da an einem bestimmten Punkt die Grenze aufgemacht wurde und die Menschen glaubten ‚Endlich. Sie lassen uns passieren.’ Sie gingen also los zum Tor und im selben Augenblick fühlten wir das Tränengas und waren für den Moment komplett blind. Wir rannten also irgendwohin und versuchten uns zu verstecken. Nach einem Augenblick konnte man überall ungarische Polizei sehen und die Menschen konnten sich nicht verstecken oder irgendwohin rennen, weil das Gedränge zu groß war. Nur die jungen Leute konnten wegrennen, die alten Personen und die Frauen mit den Kindern aber nicht. Sie landeten letztendlich irgendwie in den Armen der ungarischen Polizei und wurden bei dieser Gelegenheit verhaftet“ (N. von No Border Serbia).
Im Verlauf des Protest eskalierte die Situation und letztendlich haben wenige Personen Steine geworfen. Eine gute Dokumentation der Proteste, als Gegenstück zu den Polizeiberichten, kann bei https://www.youtube.com/watch?v=3yzBhkOes_8 gesehen werden. Die Polizei verstärkte die Eskalation und antwortete mit Tränengas und Wasserwerfern. Es handelt sich dabei um eine Praxis, die gegen die offiziellen Richtlinien des ungarischen Staates verstößt. Zum Beispiel ist es nicht erlaubt, in diesem Ausmaß gegen Gruppen vorzugehen, in denen sich Kinder befinden. Rückblickend kann dieses Verhalten gegenüber einer Gruppe Migranten, das rechtliche Grundlagen ignoriert, als ein symbolischer Anfangspunkt für ein Verhalten gelten, das einen roten Faden durch den gesamte Fall der ‚Röszke Eleven‘ zieht.
„Nach einiger Zeit war der Zaun durch die Gruppe überwunden worden und die Situation wurde noch dramatischer. In der ersten Reihe der Protestierenden waren Männer und einer von ihnen versuchte mit Hilfe eines Megafons sowohl mit der Polizei als auch mit den anderen Protestierenden zu reden. Seine Rolle bestand darin, Neuigkeiten und Entwicklungen zu kommunizieren: wann soll mit der Polizei verhandelt werden, wann soll man sich zurückziehen et cetera. Diese Situation hielt ungefähr eineinhalb Stunden an, bis sie sich beruhigte. Dann wurde eine Nachricht von der ungarischen Polizei verbreitet, dass die Menschen nun Ungarn betreten dürften. Das wurde als Sieg gefeiert und es folgten Dankes-Rufe an Ungarn und die Menschen organisierten sich in zwei Reihen. Eine für junge Männer und die andere für Familien und für Personen, die besonderen Schutz brauchen […]. Sie liefen los und schafften ungefähr 150 Meter. Die Polizei, die zuständig für den Protest war, erlaubte ihnen vorwärts zu gehen. Problematisch wurde es, als die unmarkierten, nicht identifizierbaren Personen der Antiterror-Einheit die Gruppe angriff. Nicht nur mit Polizeiknüppeln, welche erlaubt und legal sind, sonder mit speziellen Teleskop-Metall-Knüppeln […]. Diese Einheit versuchte Menschen zu fangen, aber natürlich konnten die jungen und gesünderen Menschen entkommen und nur die verletzbaren Menschen nicht und diese wurden von den Autoritäten festgenommen“ (Migszol 28.06.2016).
Und so wurden die elf Angeklagten vom ungarischen Staat ausgewählt. Menschen, die nicht fähig waren, schnell genug zu entkommen. Wer sie festgenommen hat und zu welcher Zeit ist nicht dokumentiert. Diese Vorgehensweise ist auch der Grund, warum eine so ungewöhnlich hohe Zahl der Angeklagten physisch eingeschränkt ist: Einer sitzt im Rollstuhl, einem anderen fehlt das Hüftgelenk und eine dritte Person ist eine halb-blinde, 64 jährige Frau mit Diabetes. Darüber hinaus wurden viele weitere Personen von der ungarischen Polizei festgenommen, aber nicht in Untersuchungshaft genommen und so konnten sie das Land schnell verlassen. Warum die ‚Röszke Eleven‘ für die Untersuchungshaft ausgewählt wurden, ist bislang unklar.
Die Angeklagten: Die ‚Röszke Eleven‘
Alle Angeklagten wurden zufällig aus der Gruppe gewählt und sahen sich diesen grotesken Umständen gegenüber an diesem verfluchten und miserablen Tag. Die Umstände wurden passend zurechtgedreht, hatten die drei bereits erwähnten Personen nicht einmal am Protest teilgenommen und nur darauf gewartet, das sich die zwei Reihen bilden. Nachdem die elf Personen festgenommen waren, wurden zehn von ihnen unter Anwendung des druckfrischen Gesetzes angeklagt. Der elfte, Ahmad H., erwartet eine Strafe, die noch mehr gegen jeden gesunden Menschenverstand verstößt. Weil er mit Hilfe eines Megafons kommuniziert hatte, wird er wegen Terrorismus angeklagt. Dabei handelt es sich um eine Strafe von zehn bis zu 20 Jahren Gefängnis. Für ihn ist die Situation aber noch zusätzlich dramatisch: Ahmad H. ist der Sohn der 64 jährigen, halbblinden Frau und hat einen zyprischen Pass. Er hatte sich dazu entschieden, mit seiner Familie die Route zu gehen, damit er sie unterstützen kann.
Die bereits drei erwähnten Personen wurden seitdem unter ‚Hausarrest‘ in einem der sogenannten ‚asylum detention‘ gestellt. Die anderen acht Personen wurden in Untersuchungshaft in Szeged und Kecskemét gesteckt, wobei es sich hier um eher ‚normale‘ Gefängnisse handelt, mit extrem beschränktem Zugang zu Informationen. Hier, umgeben von ungarischen Staatsbürgern, die selbst Verbrechen begangen haben oder dafür angeklagt sind und meist keine Fremdsprachen sprechen, ist die Situation noch ernster und untragbarer. Ihr einziges Verbrechen besteht darin, nach Sicherheit gesucht zu haben, was ein grundsätzliches Menschenrecht ist und legal unter internationalem Recht. Ungarn antwortet darauf mit Verhaftung und einer Inhaftierung unter extrem schlechten Bedingungen.
Für lange Zeit gab es keine Informationen bezüglich der Frage, wo die Angeklagten inhaftiert sind und was mit ihnen passieren soll, obwohl politische Gruppen von Serbien oder Ungarn versucht hatten, an diese Informationen zu kommen. Erst als eine investigative Dokumentation von Kanal Vier veröffentlicht wurde, kamen Informationen über die Bedingungen für Menschen, die nicht am Prozess beteiligt sind, an das Tageslicht.
Die Untersuchungen zu diesem Fall zeigen alle das Gleiche. Zum Beispiel gab es allegedly manipulated translations (vermeintlich manipulierte Übersetzungen), die Bedeutungen veränderten und Paragraphen hinzugefügt haben. Zum Beispiel wurde die originale Aussage verändert. In der geschriebenen heißt es ‚Wir werden zur Grenze gehen und sie überqueren.‘ und in der Übersetzung ‚Wir werden zur Grenze gehen und sie gewaltsam überwinden, egal wie.‘ Diese Veränderung soll unterstreichen, dass sie ein Verbrechen begangen haben, was sie nicht getan haben (Migszol 28.06.2016).
Alle Anklagen für die elf Personen sind mehr als dubios. „Für alle elf Personen ist das Anklagepapier nur eineinhalb Seiten lang und es enthält keine Informationen über die Umstände und den Kontext, in denen alles geschehen ist“ (Migszol 28.06.2016). Auch das Verhalten und die Handlungen der ungarischen Antiterror-Einheit gegenüber den Protestierenden fehlt vollkommen in der Beschreibung des Falls. Den Anwälten war es zu erst nicht gestattet, das Filmmaterial zu sichten und es dauerte vier Monate, bis sie überhaupt Zugang dazu bekamen. Als sie das Material dann sehen konnten, wurde klar, warum es so lange verschlossen gehalten wurde. Das Filmmaterial zeigt nichts anderes außer die drei Angeklagten, die in der Gegend herumstehen. Die im Kreuzverhör gehörten Polizisten (sie waren die einzigen Zeugen im gesamten Prozess) konnten sich an keine Details erinnern und die Mehrheit konnte nicht einmal die Personen identifizieren. Es gab sechs Anhörungen bis zur letzten am 1. Juli und selbst vor dieser war bereits für alle Beobachter*innen klar, das es sich um einen Schauprozess handelt.
Die Verhandlungen
Vor der Gerichtstür stehen Polizisten in schusssicheren Westen, ein paar Leute von der Presse und zehn Männer mit akkurater Kurzhaarfrisur. Zehn Polizisten, die gegen Ahmad aussagen werden, wie sich später herausstellt. Plötzliche sollen wir alle zur Seite gehen und uns in einen Gang stellen. Ahmad kommt den Gang entlang, bewacht wie ein Schwerverbrecher. Zwei große Männer mit Vollvermummung, er mit Handfesseln und Fußfesseln. Ahmad, deutlich gezeichnet von den letzten Monaten im Gefängnis, wird in den Saal geführt. Hier erwartet uns eine sechsstündige Tortur (N., ein Aktivist in Rückblick auf den Prozess).
Nachdem bereits Anhörungen stattgefunden hatten, nahmen einige Aktivist*innen aus Ungarn und Serbien bei den letzten Verhandlungen vom 27. Juni bis zum 1. Juli 2016 teil. Ahmads Fall wurde am 27. Juni verhandelt und der Prozess der anderen zehn Personen am 30. Juni und am 1. Juli 2016.
Grundsätzlich gab es/gibt es zwei separate Prozesse. Einen für Ahmad, der wegen Terrorismus angeklagt ist, und einen für die anderen zehn Personen, die wegen illegalen Grenzübertritts nach Ungarn und wegen Teilnahme an einem Massenprotest angeklagt sind. Es gab/es gibt zwei unterschiedliche Richterinnen und der Ablauf war etwas anders, wenn man die beiden Prozesse miteinander vergleicht. Wie auch immer, die grundsätzliche Vorgehensweise, die sich in den anderen Verhandlungen herausgebildet hatte, wurde weitergeführt.
Wie bereits erwähnt, waren die einzigen Zeugen die im Kreuzverhör gehörten Polizisten. Viele von ihnen konnten sich nicht einmal daran erinnern, was während der Proteste geschehen ist. Sehr verständlich, standen sie doch auch im Nebel ihres eigenen Tränengases. Aber bei den Protesten waren auch andere Personen anwesend und nicht nur Migrant*innen.
„Bei fast jeder Verhandlung waren nur Polizisten oder Mitglieder der Antiterror-Einheit als Zeugen geladen. Das ist verrückt. Wie können sie so jemanden identifizieren? Und was ist mit anderen Zeugen? Mit Doktoren, Mitgliedern von den NGOs oder mit Journalisten? Sind diese nicht glaubwürdig genug für diese Verhandlung?“ (N. von No Border Serbia).
Alle Anwälte versuchten, die Umstände der Proteste hervorzuheben, an Menschlichkeit, an Logik und rationale Sichtweisen zu appellieren.
Im Kontrast dazu war das Verhalten der Richterin im Fall von Ahmad H. grausam und verstieß gegen jedes Prinzip der Rechtsstaatlichkeit. „Die Richterin wirkt, als wäre in ihrem Kopf schon alles fertig. Sie kennt alle Details, lenkt alles in die richtige Richtung. Vom Staatsanwalt und vom Anwalt hört man die ganze Verhandlung über fast nichts“ (N., ein Aktivist in Rückblick auf den Prozess). Der zweite und dritte Teil von Ahmads Anhörung bestand fast ausschließlich aus der Sichtung von Videomaterial als Beweismittel. Während jeder erklärende bzw. klarstellende Beweis ignoriert wurde, wurden unverhältnismäßig intensiv die kleinsten Szenen, die nur annähernd ein Beweis gegen Ahmad sein könnten, betrachtet und hervorgehoben. Einige Szenen wurden scheinbar vorsätzlich falsch Interpretiert. Zum Beispiel zeigt Ahmad in einer Szene des Videos zwei Finger hoch. Auch diese Geste wurde als Androhung interpretiert: In zwei Stunden werden wir kommen und die Grenze übertreten. In den Videos, die Ton hatten, konnte man Sätze hören wie ‚Wir lieben die Polizei. Wir lieben Ungarn. Wir wollen einen Übersetzer für Englisch.‘ Kein Wort dazu seitens der Richterin. Die einzige Szene, die intensiv besprochen wurde, war eine Stelle, wo Ahmad einen Stein wirft. So wie dutzend andere Personen. Nach weiteren Videos mit nichtssagendem Inhalt wurde die Verhandlung geschlossen. Ahmad wurde von den maskierten Männern wieder abgeführt.
„Solch eine Ungerechtigkeit darf nicht hinter verschlossenen Türen in einem kleinen ungarischen Gericht bleiben. Hier steht ein Mann einem Gericht gegenüber, das sein Urteil schon gefällt hat, das ein Exempel statuieren will“ (N., ein Aktivist in Rückblick auf den Prozess).
Alle Angeklagte, ausgenommen Ahmad, dessen Verhandlung noch läuft, wurden verurteilt. Ein bis drei Jahre ohne Bewährung. Der Staatsanwalt hat bereits angekündigt, in Berufung zu gehen. Er hält die Urteile für zu gering und verlangt härtere Strafen. Ahmads Prozess wird am 28. oktober fortgesetzt und findet in Szeged statt. Bis dahin wird er im Gefängnis bleiben.
Protest und internationale Solidarität
„Es ist wichtig, als eine Form der direkte Aktion Solidarität zu zeigen. Man muss vor Ort sein, denn es findet in unseren Staaten statt. Es ist also wichtig zu wissen, was vorgeht und wie wir Solidarität zeigen können. Für die Menschen im Gefängnis war es das erste Mal seit knapp einem Jahr, dass es Reaktionen auf ihren Prozess gab. Und sie sahen die Reaktionen nur für zwei Minuten, nur auf dem Weg vom Polizeiauto zum Gericht. Aber ich glaube, dass es für sie genug war, zum ersten Mal Menschen zu sehen (ausgenommen deren Anwälte), die für sie da sind, um zu merken, dass sie nicht vergessen sind“ (N. von No Border Serbia).
Der Prozess am 30. Juni wurde durchgehend von einer Demonstration begleitet und Protestierende riefen auf Arabisch oder Englisch Slogans wie ‚Ihr seid nicht allein.‘ „Für mich war es ein bewegender Moment, als ich die Personen wiedergesehen habe. Und ich glaube für sie auch. Menschen zu sehen, die Slogans in ihrer Sprache rufen. Ich glaube, dass es sehr wichtig für Menschen ist, zu wissen, dass sie nicht allein sind, nicht ausgestoßen, nicht vergessen“ (N. von No Border Serbia).
Auch wenn es nur zwei Minuten auf dem Weg zum Gericht und zwei Minuten auf dem Weg zurück in die Polizeiautos waren, so waren die kurzen Augenblicke dennoch voller Spannung und Bedeutung.
„Ein paar von ihnen haben angefangen zu weinen, als sie uns sahen und unsere arabischen Slogans hörten. Ich weiß nicht, was während ihrer Zeit, während der Monate im Gefängnis geschehen ist. Aber in dem Moment, in dem sie das Gericht betraten, konnte ich in ihren Augen sehen, dass sie uns wiedererkennen und ich glaube, das war ein bedeutender Moment der Solidarität und des gemeinsamen Kampfs“ (N. von No Border Serbia).
Am Montag nach den Verhandlung, am 4. Juli, gab es auch eine Demonstration mit über 120 Teilnehmer*innen in Budapest, Ungarn.
„Auf der einen Seite kriminalisieren die Verhandlungen das Recht von Menschen auf der Flucht gegen Grenzpolitik und einhergehende Repressionen zu demonstrieren und auf der anderen Seite sollen diese Verhandlungen Menschen davon abhalten, nach Ungarn zu kommen. Trotzdem versuchen weiterhin hunderte Menschen die Grenze nach Ungarn zu überqueren“ (movingeurope 05.07.2016).
Die Verhandlungen können als Präzedenzfall eingestuft werden. Und dieser wird entweder von der ungarischen Regierung gewonnen oder von den Menschen, die in Solidarität mit den Angeklagten und Verurteilten sind.
„Während der Proteste haben wir so tolle Menschen aus Syrien, Iran, Afghanistan, von überall her kennengelernt, die den Protest friedvoll begleitet haben und nur darauf gehofft hatten, dass sie die Grenze nach den vielen Monaten des Wartens und Reisens überwinden könnten. Und ja, wir kennen auch die elf Menschen von den ‚Röszke Prozessen‘ und sie werden diese monströsen Verhandlungen erleben und bei all dem frage ich mich die ganze Zeit, wie viel mehr Menschen in ungarischen Gefängnissen festgehalten werden, ohne dass wir sie kennen und ohne zu wissen, wie man sie unterstützen kann“ (N. von No Border Serbia).
Dieser Report kann als Ausgangspunkt für mehr internationale Unterstützung gesehen werden. Diese internationale Unterstützung ist nur ein Funken Hoffnung am Horizont der stattfinden Grausamkeiten. Hierfür fragen wir jeden von euch, in Aktion zu treten und Solidaritätskampagnen in euren Orten zu starten. Lasst uns die ‚Röszke Eleven‘ unterstützen und Solidarität zeigen!
„Alle von uns hoffen auf größere internationale Unterstützung. Mehr rechtliche und finanzielle Hilfe, Aufmerksamkeit von alternativen Medien und Massenmedien, die sich für den Fall interessieren, und allgemein mehr Kritik auf europäischer Ebene. Ich glaube, dass es solche Fälle auch in Zukunft geben wird und es ist sehr wichtig, auch daran zu denken. Wie können wir uns organisieren? Wie können wir untereinander und miteinander kommunizieren? Wie können wir uns koordinieren? Wie können wir uns unterstützen und wie die betroffenen Personen? Die Menschen wissen, dass etwas im Gange ist und es gibt so viele Wege auf verschiedenen Ebenen teilzunehmen. Man kann Artikel und kritische Analysen schreiben, man kann Kampagnen starten, man kann Menschen direkt unterstützen. Dieser Prozess wird für alle weiteren in der Zukunft der entscheidende sein“ (N. von No Border Serbia).
Bedeutung für das europäische Grenzregime
Betrachtet man die Röszke-Verhandlungen als ein Teil in einem Kaleidoskop, welches sich zusammensetzt aus Praktiken, Regularien, Institutionen und Aktionen, die sich alle darum drehen, Migration kontrollieren zu wollen, erhalten sie eine erschreckende Bedeutung. Die Verhandlungen werden als Schauprozess geführt und dementsprechend wird gespielt und performt, um das Bilder des ‚kriminellen Asylsuchenden‘, der die ungarische Gesellschaft bedroht, noch gefährlicher zu zeichnen. So können sie es als Präzedenzfall für die ungarische Bevölkerung und auch für die Flüchtenden, die weiterhin die Grenze überqueren, gesehen werden.
Das illustriert die Verknüpfung von Grenzen mit dem Feld der grundsätzlichen Menschenrechte. Auch wenn der Rechtsstaat beansprucht, dass alle Menschen vor dem Gesetz gleich sind, wird dies in den Röszke-Verhandlungen nicht beachtet. Hier wird unterschieden zwischen Menschen, die einen Pass haben, und Menschen ohne Papiere. Diese Handhabung folgt der Deterritorialisierung von Grenzen, was bedeutet, dass Grenzen nicht nur Linien im Sand sind, die Staatsterritorien voneinander trennen, denn auf der einen Seite manifestieren sie sich innerhalb von Staaten und auf der anderen Seite innerhalb von Gesellschaften. Der ungarische Staat nutzt die Prozesse, um die rassistische Propaganda voranzutreiben und gleichzeitig mehr Kontrolle über das eigene Territorium zu gewinnen. Das wird durch die steigenden Zahlen bei der eingesetzten Grenzpolizei und dem Militär deutlich. Erneut verdoppelt auf 6000 Personen. Der ungarische Staat hat bereits vor Monaten einen Notstand ausgerufen. Es wird deutlich, dass die ungarische Regierung einen Krieg gegen migrierende Menschen führt und die ‚Röszke Eleven‘ sind die ersten, die öffentlich vorgeführt werden. Die Rechtsstaatlichkeit wurde in diesem Fall nicht eingehalten und die juristische Anklage wurde durch eine politische Anklage ersetzt. Es wird nicht einmal an Gerechtigkeit gedacht. Der gesamte Prozess ist umgeben von rassistischen Gedanken, von Fremdenhass und von der Machtdemonstration eines Staates, der Stück für Stück seine rassistischen Überlegungen implementiert.
Wenn diese elf Menschen vom Staat verfolgt werden, dann richtet sich diese Handlung direkt gegen alle, die migrieren, nach Asyl suchen, für freie Bewegung von Menschen und das Recht zu bleiben kämpfen, die Menschen auf ihrem Weg oder bei ihrer Ankunft unterstützen. In diesen Tagen wird Solidarität zeigen und das Kämpfen für Gerechtigkeit mehr und mehr kriminalisiert, sowohl innerhalb als auch außerhalb der EU. Das ist nur die andere Seite der selben Medaille. Die zehn verurteilten Angeklagten leiden unter dem selben System, das andere ihrer Menschenrechte beraubt. Aktivisten von No Border Serbia heben diesen Punkt ebenfalls hervor.
„Wir wollen klarstellen, dass wir für diesen absurden und grausamen Akt nicht nur die ungarische Regierung als den ‚rechtesten‘ oder grausamsten Staat in der EU verantwortlich machen wollen, so wie es andere sogenannte ‚demokratische‘ Staatsinstitutionen, NGOs und Massenmedien tun. Die ‚Horgoš/Röszke‘ Prozesse machen die Realität eines Systems deutlich, indem Staats- und Polizeigewalt nie in Frage gestellt wird und in dem sich Geld und und Güter frei bewegen, aber nicht Menschen. Sie werden nur als illegalisierte, billige Arbeitskräfte oder als Konsumenten gebraucht“ (No Border Serbia 17.05.2016).
Mit der Räumung des Camps in Idomeni ging auch die Berichterstattung zurück und verschwand fast vollkommen. Aber was für die unsichtbar bleibt, die nicht auf der Balkanroute präsent sind, ist, dass weiterhin hunderte Menschen auf ihrem Weg jeden Tag Polizeigewalt und physische Belastungen erleben. Die Schließung von Staatsgrenzen wird nie die Bewegung von Menschen aufhalten, sondern immer nur die Bedingungen der Migration verschlechtern. So gibt es in Bulgarien ‚Flüchtlingsjäger‘, weiterhin steigt die Polizeigewalt, die Preise steigen und mehr und mehr Menschen ertrinken. Der Prozess der ‚Röszke Eleven‘ ist ein Bild für das europäische Grenzregime, dass versucht Kontrolle über die Außengrenzen zu gewinnen, räumlich, sozial und rechtlich.
Es ist nur die Spitze des Eisberges, doch das europäische Grenzregime wird in dem Fall der ‚Röszke Eleven‘ deutlich und im Fall von Ahmad H. hat die ungarische Justiz bereits eine Entscheidung gefällt und auch der Anwalt blickt sehr pessimistisch auf die Möglichkeiten eines fairen Prozesses. Die einzig verbleibende Chance, vor allem für Ahmad, liegt bei internationaler Unterstützung und Aufmerksamkeit. „Das ist die Art, wie ganz Europa, nicht nur Ungarn, auf diejenigen reagiert, die sich auflehnen, die ihre Rechte verlangen. Dieser Prozess soll zeigen ‚Das passiert all denen, die sich wehren‘“ (N. von No Border Serbia).
Die nächste Anhörung von Ahmad wird am 28. Oktober 2016 sein. Aus diesem Anlass haben wir auch diesen Report geschrieben, um eure Aktionen zu unterstützen. „Wir hoffen, dass es eine Veröffentlichung von kritischen Analysen und Solidaritätsaktionen gibt. Wir hoffen, dass mehr Menschen involviert und motiviert werden, die Menschen im Gefängnis zu unterstützen. Das wird eine gute Plattform für weitere Aktionen sein“ (N. von No Border Serbia).Wenn es keine Empörung auf internationaler Ebene geben wird, bleiben die ‚Röszke Eleven‘ vergessen. Es ist nun bei euch, nach dem Lesen des Berichts aufzustehen und in Aktion zu treten und Solidarität zu zeigen.
Geschrieben von
Refugee Support Serbian-Hungarian
Text und Zitate übersetzt aus dem Englischen.
In Zusammenarbeit mit
Miszol Csoport Budapest
bordermonitoring.eu Hungary
No Border Serbia
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