[Bosnien / Kroatien] Zuspitzung an der EU-Grenze // 28. Oktober 2018
In Velika Kladusa an der Bosnisch-Kroatischen Grenzen haben seit Dienstag, den 23. Oktober bis zu 500 Menschen ein Protestcamp errichtet und halten damit den offiziellen Grenzübergang blockiert. Als Reaktion auf die Gewalt der kroatischen Grenzpolizei sowohl bei individuellen Grenzübertritten als auch bei dem Versuch eines kollektiven Durchbruchs am Mittwoch, 24. Oktober betonen die Protestierenden, dass ihr Protest gewaltfrei ist, sie aber nicht freiwillig zurückgehen werden. „We‘re going to stay here, until there is a decision from Europe.“ sagten uns die Demonstrierenden.
Wir haben mit Menschen bei dem Protest gesprochen und Interviews geführt. Diese und ander Videos vom Protest könnt ihr hier sehen:
Interview mit Protestierender in Velika Kladusa
Am Dienstag, 23. Oktober sei zunächst ein Protestmarsch aus dem improvisierten Camp am Rand der Stadt Velika Kladusa in Richtung Grenzübergang losgelaufen. Direkt vor dem Grenzübergang Maljevic demonstrierten die Flüchtenden den ganzen Tag und forderten die kroatische Seite auf, die Grenze zu öffnen und den Menschen ihr Recht auf einen Asylantrag in Kroatien zu ermöglichen. Während einige Menschen am Abend wieder zurück nach V. Kladusa gingen, harrten andere Protestierende die ganze Nacht auf der Straße vor dem Grenzposten aus, der seit Dienstag für Grenzverkehr komplett gesperrt ist.
Am Mittwoch kehrten noch mehr Menschen zu dem Protestcamp zurück und die Protestierenden ließen sich nicht mehr von der bosnischen Polizei aufhalten und drängten auf die Brücke über den Grenzfluß vor, wo sie vor der kroatischen Polizei eine Sitzblockade errichteten. An der Sitzblockade nahmen auch viele Familien und Kinder teil. Nach einiger Zeit löste die kroatische Polizei die Sitzblockade gewaltsam auf, indem sie die am Boden sitzenden Protestierenden mit Schlagstöcken und Pfefferspray angriff.
Viele Menschen erlitten Verletzungen durch diesen Angriff, vier Menschen, darunter zwei Frauen, mussten im Krankenhaus behandelt werden. Besonders die gewaltvollen Angriffe auf Kinder und Frauen empörten viele der Protestierenden. Am Abend drängten dann sowohl die kroatische als auch die bosnische Polizei noch einmal die Protestierenden einige Meter von der Brücke zurück, zerstörte dabei Zelte und verstärkte die Absperrung vor dem Protest mit Hamburger Gittern.
Am Donnerstag hielten sich ca 300 Leute dauerhaft im Protestcamp auf. Im Verlauf der ersten Tage errichteten viele Menschen Zelte in dem Protestcamp, wärmten sich an Lagerfeuern und kochten Essen und Tee. Die Community organisiere sich selbst, berichten die Protestierenden. Werkzeuge und Essen werden geteilt, manche Leute halten Nachtwache und schlichten Konflikte in der Community. Wasser und Zelte werden geteilt und es wurde sogar ein Klo für Frauen und Kinder gebaut. Am Freitag wurden viele Zelte für den angekündigten Regen der nächsten Tage ausgerüstet und mit Planen und Gräben verstärkt. Andere hausähnliche Konstruktionen aus Holz und Plastikplane wurden gebaut, um trockenen Platz für viele Menschen zu schaffen.
Am Samstagmorgen, 27. Oktober begannen zwei der Protestierenden einen „stummen Protest“, indem sie sich mit versiegeltem Mund in einer Sitzblockade direkt vor die Polizeiabsperrung setzten. Circa 50 Menschen kamen dazu und protestierten so den ganzen Tag.
Die Proteste sind Ausdruck der Situation in Bosnien kurz vorm Winter. Seit Monaten versuchen Menschen vom Norden Bosniens aus über die kroatische Grenze in die EU zu kommen. Fast alle Menschen, mit denen wir gesprochen haben, berichten uns dabei von äußerst gewaltvollen Push-Backs der kroatischen Polizei, die unter anderem No Name Kitchen immer wieder dokumentiert hat. Manche Personen haben bereits über zehn solcher Zurückschiebungen erlebt. Dabei werden die Leute oft geschlagen und misshandelt, ihnen werden die Telefone, das Geld und oft auch die Schuhe abgenommen. Angesichts des jetzt bald kommenden Winters, wenn es nicht mehr möglich sein wird, es weiter zu Fuß über die Grenze zu versuchen, suchen die Flüchtenden jetzt in dem Protest direkt vor der Grenze eine kollektive und sichbare, statt einer versteckten und individuellen Lösung. „We have no other choice. We can not go back and in Bosnia is nothing for us“ sagte uns ein Protestierender aus dem Iran, mit dem wir an der Grenze ein Interview geführt haben.
Tatsächlich ist die Situation für die tausenden Geflüchteten in Bosnien prekär. In Velika Kladusa schätzen wir die Zahl der Geflüchteten auf 600 bis 800. Im wilden Camp in der Stadt leben Menschen unter prekärsten Bedingungen in selbst gebauten Zelten. NGOs bringen Essen, allerding nur unregelmäßig. Es gibt lediglich Dixi-Toiletten und keine medizinische Versorgung. „This is not a camp“ sagte uns einer der Geflüchteten an der Grenze, der dort zuvor gelebt hatte. „We can stay here too, it‘s the same.“
In der nächstgrößeren Stadt, in Bihac gibt es das Camp Borici in einer offenen Bau-Ruine. Die Berichte über die Verhältnisse dort sind fatal. Trotz des Gebäudes zelten die Menschen vor der Einrichtung im Park, weil der Gestank und die hygienischen Bedingungen für manche nicht auszuhalten sind. Das Gebäude wird von einem Sicherheitsdienst bewacht und selbst das Betreten des Parks um das Gebäude ist verboten, es dürfen keine Fotos gemacht werden. Das verwundert nicht, denn hier leben 1.200 Menschen in würdelosen Bedingungen. Deswegen soll in Bihac in einer riesigen Lagerhalle das Übergangslager Bira eingerichtet werden und die Menschen
von Borici in den nächsten Tagen dorthin umziehen. Die Ruine in Borici soll renoviert werden und damit winterfest werden. Die Verhältnisse in Bira werden als gut beschrieben. IOM, Rotes Kreuz und MSF stellen Betten in der ehemaligen Lagerhalle, es gibt Duschen und Essensversorgung. Allerdings sind in Bira anscheinend nur Kapazitäten für maximal 600 Personen, 100-200 sollen schon dort sein. Zumindest für die Menschen in Kladusa ist dort also kein Platz.
Die Zuspitzung in den letzten Tagen veranlasst die offiziellen Institutionen in Bosnien zu übereilten Maßnahmen. Ein Plan dahinter ist nicht erkennbar oder zumindest nicht schlüssig. Bereits seit Mittwoch, dem 24. Oktober werden Busse und Züge aus der Hauptstadt Sarajevo, mit denen Flüchtende nach Norden reisen wollen, angehalten und teilweise umgeleitet. In Hadzici wurde ca. 15 Kilometer von Sarajevo entfernt am gleichen Tag ein lange erwartetes Camp eröffnet. Die Betreiber*innen rechneten für den ersten Tag eigentlich mit 20 – 30 Bewohner*innen. Nachdem die Polizei aber Busse nach Bihac dorthin umgeleitet hat und auch Geflüchtete vom Bahnhof und den umliegenden Parks in Sarajevo dorthin gebracht hat, waren die Kapazitäten von Hadzici mit ca. 270 Menschen am ersten Tag erschöpft. Als letzte Lösung kommen hier nur noch Zelte in Frage.
Einer der drei Präsidenten Bosniens kündigte am Freitag, 26. Oktober vor den Medien an, im Zweifel auch das Militär für die Grenzsicherung einsetzten zu wollen – was bei den Protestierenden vor der Grenze eher für Belustigung gesorgt hat. „Do they think, they can fear us?“, sagt uns ein Protestierender. „There are refugees from syria here, who expirienced the war. Bosnian armee can not fear us.“
Mit dem Stoppen der Busse und des öffentlichen Verkehrs für Flüchtende richtung Norden wird de facto gerade eine Grenze innerhalb Bosniens gezogen. Bereits jetzt gibt es Erzählungen davon, dass Taxis Leute für hunderte Euro doch nach Velika Kladusa bringen, wärend der Regierung offenbar daran gelegen ist, den Protest nicht größer werden zu lassen. Obwohl es beim Protest-Camp keine Versorgung durch NGOs oder Aktivist*innen gibt, ist die lokale Bevölkerung sehr solidarisch mit den Flüchtenden: in allen Läden in der Stadt sind Menschen unterwegs, können ihre Telefone aufladen oder die Toiletten benutzen.
Für die Situation hier hat die bosnische Regierung und alle Hilfsorganisationen keine Lösung. Es gibt vorm herannahenden Winter nicht genügend Kapazitäten in menschenwürdigen und warmen Unterkünften. Wenn Kroatien und Europa nicht dem Recht der Protestierenden vor der Grenze, einen Asylantrag stellen zu dürfen, entsprechen wird, dann werden Menschen hier im Winter erfrieren. Die Verantwortung dafür ist nicht so offensichtlich wie auf dem Mittelmeer, auf dem Menschen ertrinken gelassen werden – aber die Wirkung ist die gleiche.