Category Archives: Bosnien

Antirepressionsbericht 2020- 2022 von der Kampagne you can’t evict solidarity

(veröffentlicht: Februar 2022)

Im folgenden Bericht möchten wir als Antirepressionskampagne darlegen, wie viele und welche Repressionsfälle wir in den vergangenen zwei Jahren begleitet, beobachtet, dokumentiert und finanziell unterstützt haben.

Bei fast allen Repressionsfällen handelt es sich bei den Betroffenen um Menschen, die als auf ihrer Flucht nach Europa an den EU-Außengrenzen durch die rassistische EU-Migrationspolitik und das Grenzregime kriminalisiert werden. Häufig lässt sich dabei eine Systematik erkennen: Menschen erreichen einen EU-Staat, werden in menschenverachtende Lager gesperrt und isoliert. Einige lehnen sich dagegen auf und werden anschließend in der Öffentlichkeit und Medien als “kriminell” dargestellt. Weil sie für ihre Rechte eingetreten sind, werden sie angeklagt und in beschleunigten Verfahren und unfairen Gerichtsprozessen zu horrenden Strafen verurteilt – und niemand bekommt etwas mit.
Dieser Unsichtbarkeit und Ungerechtigkeit möchten wir entgegenwirken. Gleichzeitig möchten wir die widerständigen, fliehenden Menschen unterstützen, wenn ihre Migration kriminalisiert wird. Wir wollen durch unsere Arbeit helfen, angemessene rechtliche Begleitung zu ermöglichen und durch konsequente Öffentlichkeitsarbeit die Prozesse ins Licht der Öffentlichkeit zerren.

Fall: Vial 15 (April 2020 – Juni 2021)

Mitte April 2020 – kurz nach Pandemiebeginn – wurde über das Hotspot-Lager Vial auf der griechischen Insel Chios eine Ausgangssperre verhängt. Während dieser wurden die Bewohner*innen nicht einmal mit dem Lebensnotwendigen versorgt! Als schließlich eine irakische Frau in einem Isolationscontainer starb ohne ausreichend medizinisch behandelt worden zu sein, brachen Proteste aus. Im Rahmen der Proteste kam es zu einem Brand.

Daraufhin wurden willkürlich 15 Personen festgenommen und 14 Monate lang in Untersuchungshaft gehalten, obwohl die Staatsanwaltschaft während des gesamten Verfahrens keine stichhaltigen Beweise für die Schuld der Angeklagten vorlegen konnte . Bei der Verurteilung wurde sich stattdessen auf die fragwürdige Identifizierung eines Mitarbeiters der Sicherheitsfirma des Lagers Vial gestützt.

Am 29. Juni 2021 wurden dann im Gerichtsprozess alle Angeklagten vom Vorwurf der Brandstiftung mit Gefährdung von Menschenleben sowie dem Vorwurf der Bildung einer kriminellen Vereinigung im Hotspot Lager Vial auf Chios freigesprochen.

Während vier Personen von allen Anklagepunkten freigesprochen wurden, wurden acht Personen wegen Widerstand und den Ausschreitungen im Camp verurteilt. Eine Person wurde zudem wegen Zerstörung öffentlichen Eigentums verurteilt.

Einer der Angeklagten wurde am ersten Tag vom Verfahren ausgeschlossen, weil er minderjährig ist. Eine weitere Person konnte nicht aufgefunden und verhaftet werden und war daher bei der Verhandlung nicht anwesend. Alle neun Personen, die verurteilt wurden, erhielten eine Bewährungsstrafe von 3,5 Jahren, gegen die Berufung eingelegt wurde.

Alle 15 Personen wurden zurück nach Athen und Chios überstellt und (teilweise auf Bewährung) freigelassen.
Für den Tod der Frau in dem Isolationscontainer oder die unmenschlichen Zustände in den Hotspot-Lagern wurde allerdings bis heute noch niemand zur Verantwortung gezogen.

 

Fall: Moria 6 (September 2020)

https://freethemoria6.noblogs.org/

Am 16.09.2020 ist das berüchtigte Hot-Spot-Lager Moria bis auf den Grund abgebrannt. In Folge des Brandes wurden vollkommen willkürlich und ohne Beweise 6 junge afghanische Teenager festgenommen und in Untersuchungshaft gesteckt. Damit wiederholte der griechische Staat das altbekannte, zynische Spiel nach Protesten, Unfällen oder Unruhen im Lager einfach irgendwelche Menschen festzunehmen und für das Geschehene verantwortlich zu machen.

Entsprechend hat die Regierung schon wenige Tage nach der Verhaftung und lange vor einer gerichtlichen Bearbeitung des Falles verkündet, dass die 6 Teenager ihrer Ansicht nach schuldig seinen.

Zwei der Minderjährigen wurden dann am 09.03.2021 zu 5 Jahren Haft wegen Brandstiftung und Gefährdung von Menschenleben nach Jugendstrafrecht verurteilt, obwohl die Beweisaufnahme keine stichhaltigen Beweise lieferte und die einzigen Belastungszeugen zwei Polizisten waren, die widersprüchliche und unschlüssige Aussagen machten.

Den anderen vier Beschuldigten wurde ihre Minderjährigkeit abgesprochen, obwohl sie Dokumente vorlegten, die ihre Minderjährigkeit zum Verhaftungszeitpunkt beweisen konnten. Dadurch traf sie das griechische Recht in Voller Härte: sie wurden am 13.06.2021 zu 10 Jahren Gefängnis wegen Brandstiftung und Gefährdung von Menschenleben verurteilt. Auch dieser Prozess war von Widersprüchen und Mangel an Beweisen gekennzeichnet.

Zusammen mit vielen aktivistischen Gruppen und NGOs machten wir Öffentlichkeitsarbeit vor und während den Prozessen, stellten Forderungen nach transparenten und fairen Prozessen und unterstützten die Betroffenen finanziell.

Fall: Mohamad H.

Am 13. Mai 2021 wurde der 27-jährige Mohamad H. vom Gericht in Mytilene, Lesbos, zu 146 Jahren Gefängnis verurteilt. Im Dezember 2020 ist er mit 33 weiteren Personen in einem Boot nach Griechenland geflohen. Direkt nach der Ankunft auf

Lesvos wurde er als “Fahrer” des Bootes verhaftet und für “Transport von Drittstaatsangehörigen ohne Einreiseerlaubnis in griechisches Hoheitsgebiet” (Schmuggel) angeklagt.

Sein Fall ist höchst problematisch: Erstens wurde dem Angeklagten während der Verhandlung auf Englisch und nicht auf seine Muttersprache Somali übersetzt. Zweitens identifizierten die Zeug*innen den Angeklagten im Prozess nicht als Schmuggler, sondern als die Person, die das Boot in einer Notsituation fahren musste. Das Urteil wurde also gefällt, obwohl weitere Geflüchtete, die mit Mohamed im selben Boot saßen aussagten, dass sie Mohamad ihr Leben verdanken.

Die Verteidigerinnen werden Berufung einlegen.

Fall: K.S.

Am 23. April 2021 fand in Mytilini auf Lesbos der Prozess gegen K.S., einen jungen Mann aus Syrien statt. Er wurde wegen “unerlaubter Einreise” und “Beihilfe zur illegalen Einreise” zu 52 Jahren Haft verurteilt.

Auch dieser Fall zeugt von der unbeschreiblich brutalen europäischen Migrationspolitik und der andauernden Kriminalisierung von Flucht. Zusammen mit seiner Familie erreichte K.S. die griechische Insel Chios Anfang März 2020. In diesen Zeitraum war das Recht auf Asyl in Griechenland wegen politischer Auseinandersetzung zwischen der Türkei und der EU faktisch außer Kraft gesetzt. Statt ankommenden Migrant*innen Schutz zu gewähren, stellte der griechische Staat systematisch Strafanzeigen wegen “illegaler Einreise”.

K.S. wurde außerdem nach seiner Ankunft zu Unrecht beschuldigt, das Boot mit dem er und seine Familie auf Chios ankamen, gesteuert zu haben. Er wurde wegen “Beihilfe zur illegalen Einreise” (aka Schmuggel) sowie “Herbeiführung eines Schiffsunfalls” angeklagt.

Diese Kriminalisierung hat System. Wir beobachten, dass sich Abläufe in ähnlicher Weise wiederholen: ohne ausreichende Beweise werden Menschen meist zum Zeitpunkt der Ankunft noch vor Ort verhaftet und monatelang in Untersuchungshaft gesperrt. Wenn ihr Fall schließlich vor Gericht kommt, laufen die Verfahren weder fair noch rechtsstaatlich ab. Sie dauern im Durchschnitt eine gute halbe Stunde Und resultieren in extrem hohen Haft- und Geldstrafen. Zum Beispiel beträgt durchschnittliche Strafe für die Anklagepunkte, die gegen K.S. erhoben wurden, 93 Jahre.

Gegen das Urteil, zu dem K.S. verurteilt wurde, wird es im Frühjahr 2022 ein Berufungsverfahren geben.

Fall der El Hiblu 3

In Malta wurden im Frühling 2019 drei Teenager wegen Terrorismus angeklagt. Sie gehörten zu einer Gruppe von Migrant*innen, die am 26. März 2019 auf einem Gummiboot aus Libyen flohen. Die 108 vom Ertrinken bedrohten Menschen wurden von der Besatzung des Frachtschiffs El Hiblu 1 gerettet. Auf Anweisung eines Flugzeugs der europäischen Militäroperation Eunavfor Med versuchte die Besatzung, die Geretteten nach Libyen zurückzubringen. Dabei ist Libyen vom Krieg zerrissenen und Migrant*innen müssen dort unter entsetzlichen Bedingungen leben. Die Geflüchteten protestierten gegen die Rückführung nach Libyen und überzeugten die Besatzung der El Hiblu 1 stattdessen Richtung Norden nach Malta zu steuern. Bei dem Protest wurde niemand verletzt und es wurde nichts beschädigt. Dennoch wurden drei Teenager bei ihrer Ankunft verhaftet und 7 Monate lang festgehalten.

Im November 2019 wurden sie auf Kaution freigelassen. Seitdem sind sie auf Bewährung und dürfen Malta nicht verlassen. Sie müssen sich jeden Tag auf der Polizeiwache melden und an einer monatlichen Anhörung teilnehmen, bei der die Staatsanwaltschaft versucht, mögliche Anklagepunkte zu ermitteln. Sollten die El Hiblu 3 von einem Geschworenengericht in Malta für schuldig befunden werden, droht ihnen eine hohe Haftstrafe.

Die letzte Anhörung war zu Beginn diesen Februars 2022, das Ergebnis ist bisher nicht veröffentlicht.

Solidaritätskampagne “Free the El Hibu Three!”: https://elhiblu3.info/

Fall: Menschenrechtsaktivist in Kroatien

Am 05. November 2020 fand das Berufungsverfahren gegen ein Gerichtsurteil von Mai 2020 in Zagreb, Kroatien, statt. Das Urteil richtete sich gegen den Partner einer Menschenrechtsaktivistin von Are You Syrious (AYS). Er kam 2017 als Geflüchteter aus dem Irak nach Kroatien. Ein Jahr später wurde sein Flüchtlingsstatus anerkannt . Auch er war zeitweise bei AYS aktiv. AYS ist Teil des Border Violence Monitoring Network (Netzwerk zur Beobachtung von Gewalt an der Grenze). Das Netzwerk veröffentlichte im Januar 2020 einen ersten Jahresbericht, in dem Folter von People on the Move durch kroatische Behörden an den EU-Außengrenzen angeprangert wird.

2019 gab es Anquatschversuche gegen den Beschuldigten mit der Intention, Informationen über andere Geflüchtete sowie über AYS herauszufinden. Polizist*innen wollten sich mit ihm inoffiziell treffen. Als er keine Infos an die Cops geben wollte, haben sie mit dem Entzug seines Asylstatus und Abschiebung in Irak gedroht.

Der Entzug des Aufenthaltsstatus wurde am 11. Mai 2020 von Gericht beschlossen, die Berufung dagegen war im November 2020. Das Ergebnis ist uns nicht bekannt. Beide Aktivist*innen haben Kroatien verlassen.

Räumung Autonome Fabrik ROG in Ljubljana (Slowenien)

Am 19. Januar 2021 wurde das soziale Zentrum – die Autonome Fabrik Rog (AT Rog) – mit vereinten Kräften privater Sicherheitsfirmen mit rechter Gesinnung und der Polizei brutal angegriffen und anschließend mit Bulldozern zerstört. Der Angriff wurde von der Stadtverwaltung von Ljubljana orchestriert. Ohne Vorwarnung und ohne jegliche Rechtsgrundlage wurden Häuser abgerissen und schwer beschädigt, Geräte, Werkzeuge und persönliche Gegenstände konfisziert und Menschen gewaltsam von ihrem Wohnraum verdrängt.

Mit der Räumung und Zerstörung des ROG ist ein weiterer wichtiger selbstorganisierter Raum zerstört , in dem politische Organisierung, Vernetzung stattfand und praktische Solidarität gelebt wurden. Das ROG war wichtig für die Bewegung in Slowenien, aber auch ein Knotenpunkt internationalen Aktivismus. In den Jahren um den sogenannten “Langen Sommer der Migration” war es ein wichtiger Ort sowohl für People on the Move, als auch für aktivistische Gruppen.

Hungerstreik im Lipa Camp Januar 2021

In den ersten Januartagen 2021 hatten sich hunderte Menschen im zuvor ausgebrannten Camp Lipa in Bosnien-Herzegowina zu einem Protest zusammengeschlossen. Sie demonstrierten gegen die katastrophalen Lebensbedingungen, die sie zum täglichen Kampf ums Überleben zwangen. Viele der protestierenden People on the Move traten schließlich in einen Hungerstreik, um für eine menschenwürdige Behandlung und Unterbringung, für offene Grenzen und internationale Medienaufmerksamkeit zu kämpfen.

Das Lager Lipa befindet sich in Westbosnien, nahe der Großgemeinde Bihać und der Grenze zum EU-Lande Kroatien. Isoliert und abgeschnitten von der Gesellschaft und medialer Öffentlichkeit, galt Lipa eigentlich als Notfalllager während der Covid-Pandemie und war dementsprechen desaströs schlecht ausgestattet und versorgt.

Hunderter Menschen mussten dort ausharren und waren Repressionen und Präsenz von Polizei und Militär dauerhaft ausgesetzt.

Umso mutiger war der Widerstand der Menschen in dem Camp. Wir versuchten ihn im Rahmen einer Kampagne in seiner Sichtbarkeit zu unterstützen. Forderungen dabei lauteten:

Kein neues Camp Lipa 2.0 (nach dem Brand), keine militärische Offensive, keine weiteren Scheinlösungen im Machtspiel zwischen EU und inner-Bosnischer Konflikte!

Den Menschen muss unmittelbar eine lebenswürdige Alternative geboten werden und die politisch Verantwortlichen zur ihrer Verantwortung gezogen werden!

Evakuiert alle Lager! Jetzt!

Fall: Amir & Razuli

Amir und Razuli, zwei geflüchtete Personen aus Afghanistan, versuchten im März 2020 Griechenland mit einem Schlauchboot zu erreichen und wurden dabei von der griechischen Küstenwache brutal angegriffen. Diese versuchte, sie mit Gewalt in die Türkei zurückzudrängen. Durch den Angriff sank das Boot und die Küstenwache musste sie an Bord nehmen. Amir und Razuli wurden zusätzlich zu ihrer eigenen Einreise willkürlich wegen “Beihilfe zur illegalen Einreise” und “Provokation eines Schiffbruchs” angeklagt. Nach einem halben Jahr in Untersuchungshaft wurden sie am 8. September 2020 schließlich zu 50 Jahren Gefängnis verurteilt.

Das Berufungsverfahren findet am 17. März 2022 auf Lesbos statt. You cant evict solidarity wird den Prozess kritisch beobachten und darüber berichten.

In Griechenland – und ganz Europa – wird Flucht scharf kriminalisiert. Menschen werden immer wieder willkürlich vor Gericht gezerrt. Die Prozesse dauern durchschnittlich nur etwa 30 Minuten, führen zu einer durchschnittlichen Strafe von 44 Jahren und Geldstrafen von über 370.000 Euro. Nach offiziellen Zahlen des griechischen Justizministeriums befinden sich derzeit fast 2.000 Menschen aus diesem Grund in griechischen Gefängnissen

Fall: Mohamed & Hamza

Hamza und Mohamed sind marokkanische Staatsbürger, die auf der Suche nach Schutz und besseren Lebensbedingungen aus ihrem Land geflohen sind. Insbesondere Hamza Haddi ist ein bekannter politischer Aktivist, der auf politisches Asyl in Europa hoffte. In Marokko wird er wegen seiner Aktivitäten während des Arabischen Frühlings sowie seines Engagements bei der marokkanischen Menschenrechtsvereinigung AMDH politisch verfolgt. Er wurde bereits dreimal inhaftiert und ist, zusammen mit weiteren Familienmitgliedern, mehrfach von den marokkanischen Behörden ins Visier genommen und eingeschüchtert worden. Hamza wird politisch verfolgt.

Da es den meisten Menschen auf der Flucht unmöglich ist, legal nach Europa einzureisen und Asyl zu beantragen, waren auch Hamza und Mohamed dazu gezwungen, sich an Bord eines Bootes zu begeben und dabei ihr Leben zu riskieren.

In Griechenland angekommen, wurden sie sofort von der griechischen Grenzpolizei verhaftet. Doch damit nicht genug. Hamza und Mohamed wurden des Schmuggels von zwei Personen – einer davon Hamzas eigenem Bruder – beschuldigt und am 04. Februar 2020 von einem griechischen Gericht infolge ihrer eigenen Flucht als “Schmuggler” und wegen “Beihilfe zur illegalen Einreise” zu 4 Jahren und 1 Monat Haft verurteilt.

We stay in solidarity!

no border – no nation – just people: Spendenaufruf im Dezember 2021

no borderno nationjust people: Spendenaufruf im Dezember 2021

 

Liebe Freund*innen, Genossen*innen und alle da draußen, denen das Schicksal von Menschen auf der Flucht und die unmenschliche Situation an den Grenzen nicht egal ist,

erst einmal herzlichen Dank an euch alle, dass ihr letztes Jahr im Winter (erneut) so viel gespendet und damit eure Solidarität mit Menschen auf der Flucht gezeigt habt. Immer wieder berührt uns diese breite Anteilnahme und zeigt, dass wir viele sind und gemeinsam etwas gegen die aktuellen Zustände an den EU-Grenzen tun können. Wir wollen euch in diesem Schreiben schildern, was 2021 aus unserer Perspektive an den EU-Grenzen geschehen ist, wo Unterstützung benötigt wird und wo wir durch unsere Arbeit unterstützen konnten.

 

Das Lager Moria 2.0 und Gerichtsurteile nach dem Brand im alten Lager Moria

Wie ihr vermutlich mitbekommen habt, haben nach dem Brand in dem ehemals größten Geflüchtetenlager Europas Moria auf der griechischen Insel Lesbos im Herbst 2020 tausende Menschen ein Dach über dem Kopf verloren und saßen teilweise und inmitten der Pandemie ohne jegliche Versorgung auf der Straße. Der Hoffnungsschimmer, dass sich ein schreckliches Lager wie Moria nicht wiederholen würde nachdem es abgebrannt war, wurde schnell im Keim erstickt als die griechische Regierung in kürzester Zeit das neue Camp Kara Tepe auf Lesbos errichtete. Kaum vorstellbar und doch traurige Realität: die humanitären Bedingungen und die Repression im Lager, das auf einem ehemaligen Militärübungsplatz direkt am Wasser liegt und in denen die Menschen in Zelten dem Winter schutzlos ausgeliefert sind, sind noch schlimmer als im alten Lager. So entstand schnell der Name “Moria 2.0”. Schon jetzt ist die solidarische Unterstützung der Menschen vor Ort u.a. von der No Border Kitchen Lesbos massiv erschwert, trotzdem unterstützen diese die Menschen, wo es geht.

Nach dem Brand in Moria wurden innerhalb weniger Tage sechs Jugendliche der afghanischen Minderheit der Hazara zu Sündenböcken gemacht und zu Verantwortlichen des Feuers erklärt. In kürzester Zeit und ohne tiefergehende Untersuchungen wurden die sechs Jungs (fünf von ihnen minderjährig) in Untersuchungshaft genommen und im März und Juni diesen Jahres schließlich zu hohen jahrelangen Haftstrafen verurteilt. Es gibt in ihrem Fall ist keine belastbaren Beweise und der Prozess ist politisch stark aufgeladen, sodass wir den gesamten Fall als unfair und nicht rechtsstaatlich bewerten. Wir haben den Fall gemeinsam mit anderen Gruppen solidarisch von hier und vor Ort begleitet und stehen nach wie vor in Kontakt mit den Angehörigen der Inhaftierten.

 

Die Situation an der polnisch-belarussischen Grenze

Polen – Belarus – Afghanistan und Nordirak. Die Machtübernahme der Taliban in diesem Sommer zwingt derzeit tausende Menschen aus Afghanistan zur Flucht, nachdem internationale Kräfte sich dieses Jahr Hals über Kopf aus dem Staub gemacht und viele verzweifelte Menschen – ob sogenannte Ortskräfte oder nicht – zurückgelassen haben. Die Situationen für Frauen*, (Menschenrechts-)Aktivist*innen, Künstler*innen etc. ist katastrophal und aktuell droht eine allgemeine Hungersnot in Afghanistan. Zusätzlich ist die Lage für viele Kurd*innen bzw. Jezid*innen im Nordirak auch nach der Zurückschlagung des sogenannten IS prekär, sodass auch von dort viele Menschen versuchen nach Europa u.a. zu ihren Familien hierherzukommen, während die EU sich mit aller Gewalt abschottet.

Diese verzweifelte Situation hat der belarussische Diktator Lukatschenko genutzt, um die fliehenden Menschen als Macht-Spielball zu instrumentalisieren und die EU zu erpressen. So wurden und werden Tausende visa- und quaratänefrei aus Afghanistan, Irak, Türkei und anderen Staaten nach Minsk geflogen und an die polnische Grenze gebracht. Dort angekommen sitzen sie an der Grenze fest und werden von den polnischen und belarussischen Grenzschutzeinheiten und Militär mit aller Gewalt illegal hin- und hergepusht, dabei wurde gegen Kinder und Familien Tränengas und Wasserwerfer bei Temperaturen um den Gefrierpunkt eingesetzt. Die EU und Deutschland verwehren ihnen das Recht auf Asyl und schauen zu wie Menschen in den Wäldern erfrieren, während gleichzeitig jegliche NGOs, medizinische Notversorgung, Presse oder Nahrungsmittel blockiert und kriminalisiert wird. Die Situation erinnert an das Sterbenlassen durch die EU im Mittelmeer. Doch auch an der belarussisch-polnischen Grenze sind Aktivist*inen vor Ort und versuchen, Kontakt zu den Menschen, die dort festsitzen aufzunehmen und sie zu unterstützen, so u.a. die polnische Grupa Granica.

 

Bosnien: Der Winter kommt

 Die starken Regenfälle in Bosnien betreffen nach wie vor große Teile des Landes und überschwemmen die behelfsmäßigen Camps, die sich People on the Move (PoM) einrichten. Viele Menschen vor Ort, beispielsweise in den Regionen um Bihać und Velika Kladuša, sind auf die Unterstützung bei grundlegenden Bedürfnissen, wie Trinkwasser und Essen, und medizinische Versorgung angewiesen. Noch dazu wird auch hier der kommende Winter immer präsenter. Eine der wichtigsten Ressourcen ist Feuerholz, das auch hier schwierig zu bekommen ist, und wofür Unterstützer*innen immer neue Wege der Finanzierung suchen müssen.

Gewalt wird hier zur Normalität gemacht: Täglich unterstützen aktivistische Gruppen vor Ort mehrere PoM-Gruppen, für die Pushbacks durch (Grenz-)Polizei Alltag sind. Diese Pushbacks sind illegal und machen deutlich, dass das Grundrecht auf Asyl in der Europäischen Union nicht mehr existiert. EU-Grenzschutzbehörden führen diese Praxis systematisch täglich durch. Unsere Kontakte berichten über die gewaltvollen Eingriffe der Grenzpolizei, bei denen sie psychische und physische Gewalt erfahren. Oft werden ihnen dabei zusätzlich persönliche Gegenstände, auf die sie grundlegend angewiesen sind, abgenommen, unter anderem Handys und Powerbanks.

 

Unsere Antwort heißt Solidarität

Dennoch nehmen Aktivismus und Widerstand gegen das brutale Grenzregime nicht ab. Noch immer gibt es an verschiedenen Orten, wo Menschen feststecken, Unterstützungsstrukturen und praktische Solidarität. Menschen organisieren sich gemeinsam, dokumentieren Gewalt und Pushbacks, schaffen eigene Öffentlichkeit, wenn die Medien Geschehnisse nicht mehr zeigen und es werden ganz praktische Sachen wie Lebensmittel zum Kochen, medizinische Versorgung, Kosten für Anwält*innen zur Verteidigung basaler Rechte gedeckt.

Unsere Solidarität wird niemals enden. Die Situation für Menschen auf der Flucht wird immer prekärer, der Zugang zu teilweise einfachen Bedürfnissen wird auch durch die Pandemie stark eingeschränkt – und die Spendengelder sind fast aufgebraucht.

Deshalb wenden wir uns heute nochmal an euch mit der Bitte, uns (weiterhin) zu unterstützen.

 

Was haben wir mit euren Spenden in 2021 erreicht?

 Die No Border Kitchen Lesbos und weitere lokale Initiativen haben in 2021 erneut – u. a. mit euren Spenden und insgesamt vielen tausend Euro Spendengeldern – die dort festsitzenden Menschen durch warme Mahlzeiten, Getränke, Decken und Kleidung praktisch solidarisch unterstützt. Wir können ihnen zwar nicht ihre Würde zurückgeben, aber das Gefühl, dass sie nicht alleine sind, und, dass es in Europa auch Menschen gibt, die sich mit ihnen solidarisieren.

Wir haben mit euren Spenden des Weiteren auch die Arbeit sozialer Initiativen entlang der sogenannten Balkanroute, in Griechenland und der Türkei sowie an der polnischen Grenze zu Belarus unterstützt. Dazu unterstützen wir auch Orte, in denen Geflüchtete wohnen, die Menschen auf der Flucht unterstützen bzw. sich für die Rechte Geflüchteter und für Bewegungsfreiheit einsetzen.

Wir konnten durch eure Unterstützung Vieles bewegen. Um unsere Vorhaben auch jetzt und in Zukunft weiter realisieren zu können, bitten wir alle unsere Freund*innen, Genoss*innen und solidarische Menschen, uns nach ihren Kräften und Möglichkeiten mit Spenden zu unterstützen oder zu überlegen, wie und wo ihr in eurem Umfeld Gelder besorgen könnt, damit bei uns weiterhin der Kessel dampft.

Teilt diesen Aufruf gerne auch überall.

In Solidarität,

You can’t Evict Solidarity als Teil der Kampagne “No Border – No Nation – Just People”

 

Infos zur Situation an den Grenzen:

http://balkanroute.bordermonitoring.eu

https://cantevictsolidarity.noblogs.org

https://noborderkitchenlesvos.noblogs.org

 

Spendenkonto:

Kontoinhaber*in: VVN/BdA Hannover

Verwendungszweck: just people

Bank: Postbank Hannover

IBAN: DE67 250 100 3000 4086 1305

BIC: PBNKDEFFXXX

(Verwendungszweck beachten!)

 

[Balkan] Neues Mapping-Projekt gegen Push-Backs

Dieser Beitrag wurde zuerst veröffentlicht unter www.pushbackmap.org am 18. Juni 2019

Ein Instrument zur kollektiven Bekämpfung des repressiven Grenz- und Kontrollregimes

Zagreb, 18. Juni 2019: Derzeit erleben wir eine Zunahme der institutionellen Gewalt in ganz Europa. An den Grenzen der EU finden täglich Abschiebungen und Zwangsrückführung über die Grenzen hinweg statt. Diese gewalttätigen Praktiken werden als Push-backs bezeichnet. Es handelt sich um eine systematische institutionalisierte Technik, mit der grenzüberschreitende Bewegung unterdrückt wird. Mit unserem neu entwickelten Online-Tool The Push-back Map, (www.pushbackmap.org)  wollen wir diese Praktiken kartieren, dokumentieren, visualisieren und anprangern.

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[Grenze Bosnien / Kroatien] Proteste und Zuspitzung, 28. Oktober 2018

[Bosnien / Kroatien] Zuspitzung an der EU-Grenze // 28. Oktober 2018

silent protest in front of the border Bosnia / Croatia

In Velika Kladusa an der Bosnisch-Kroatischen Grenzen haben seit Dienstag, den 23. Oktober bis zu 500 Menschen ein Protestcamp errichtet und halten damit den offiziellen Grenzübergang blockiert. Als Reaktion auf die Gewalt der kroatischen Grenzpolizei sowohl bei individuellen Grenzübertritten als auch bei dem Versuch eines kollektiven Durchbruchs am Mittwoch, 24. Oktober betonen die Protestierenden, dass ihr Protest gewaltfrei ist, sie aber nicht freiwillig zurückgehen werden. „We‘re going to stay here, until there is a decision from Europe.“ sagten uns die Demonstrierenden.

Wir haben mit Menschen bei dem Protest gesprochen und Interviews geführt. Diese und ander Videos vom Protest könnt ihr hier sehen:

Interview mit Protestierender in Velika Kladusa Continue reading

[Bosnien] Neuer Bericht aus Bosnien, 13. Oktober 2018

Bericht zur Lage in Bosnien // 13. Oktober 2018

Die Situation in Bosnien unterscheidet sich stark von der in Serbien. Viele Ortsansässige sind sehr freundlich und solidarisch, und verschiedene Organisationen – sowohl NGOs als auch Offizielle (UNHCR, IOM, etc.) – sind hier tätig. Auch die MSF sind aktiv und (wie immer) eine große Unterstützung für freiwillige Gruppen. Außerdem gibt es mehrere aktive Freiwilligengruppierungen, von denen aber nicht viele explizit politisch sind und einige, die mit IOM kooperieren (und dementsprechend von ihnen abhängig sind).

Bisher war die Polizei recht freundlich: sie schlagen niemanden systematisch zusammen und Menschen, die von Bosnien nach Serbien gehen, werden vor Landminen gewarnt statt zurückgedrängt. Mit der steigenden Anzahl von Menschen, die nach Bosnien kommen, wird die Polizei jedoch zunehmend überfordert, Konflikte verschärfen sich und letzte Woche gab es die erste Messerstecherei in Sarajevo.

Hauptbahnhof in Sarajevo, Bosnien – photo credits: BASIS Sarajevo

Außerdem gibt es Gerüchte über einen Migranten, der vor kurzem in Sarajevo gestorben sein soll, was wahrscheinlich ein Unfall war; allerdings hat niemand nähere Informationen dazu. Wir versuchen weiterhin, Näheres dazu zu erfahren. Die Zahl der Fälle von Polizeigewalt steigt an und es werden Videos veröffentlicht, die zeigen, wie Migranten/Geflüchtete willkürlich geschlagen werden, wie Polizisten Migranten/Geflüchtete beleidigen, und Berichte über Freiwillige, die sich für eine menschenwürdige Behandlung von Geflüchteten einsetzen, die von der Polizei herumgeschubst werden. Außerdem gibt es Zeugenaussagen zu bosnischer Polizeigewalt, aber auch diverse Berichte über Raub durch die bosnische Polizei in Republika Srpska, wo die Polizei Geflüchtete/Migranten dazu brachte zu bezahlen, damit sie ihren Weg fortsetzen dürften, und sie dann eine halbe Stunde spaeter mit Polizeiwagen abfing um sie wieder zurückzudrängen. Es gibt Berichte über kroatische Polizisten, die Menschen in verminte Gebiete zurückdrängen, nachdem sie sie ausgeraubt und geschlagen haben. Außerdem gibt es Berichte über bosnische Polizisten aus Republika Srpska, die Menschen dazu zwangen, sich bis auf die Unterwäsche auszuziehen, um sie dann in Handschellen zu legen, sie zu schlagen und sie in einem verlassenen Haus zurückzulassen, wo sie schließlich von Ortsansässigen gefunden wurden, die ihnen Kleidung gaben und sie in einen Bus nach Sarajevo setzten. Andere Berichte sprechen von mehreren ertrunkenen Menschen in Flüssen, und weiterhin unbestätigte Berichte über Menschen, die beim Durchqueren von Bergregionen von Steinschlag getroffen wurden.

Dann ist da noch Velika Kladusa, eine kleinere Stadt im Grenzgebiet. Hier gibt es ein semi-offizielles Wildcamp, in dem auch No Name Kitchen arbeitet, Essen verteilt wird und Duschen zur Verfügung gestellt werden. Mittlerweile kommen auch andere Organisationen dort an, und weil die Lage noch recht chaotisch ist, kommt auch die Polizei, die bisher allerdings keine Schwierigkeiten macht sondern sich eher mit der Kontrolle und Verteilung der Menschenmengen beschäftigt. 

Wildes Lager in Velika Kladus, photo credits to NoNameKitchen

Freiwillige sind zum größten Teil längerfristig dort, scheinen überarbeitet und es ist schwierig in bestehenden Strukturen mitzuwirken. Besonders an V. Kladusa ist die Tatsache, dass die slowenische Grenze nur noch 70-80 km entfernt ist, wenn man es von hier aus geschafft hat, die Grenze nach Kroatien zu überqueren. Allerdings wird die Grenze mit Geräten wie (soweit wir wissen) einer Art Audioradar, Dronen, Infrarotkameras stark überwacht und auch hier werden Menschen von Slowenien nach Bosnien zurückgedrängt (2 Grenzüberquerungen). Es gibt Berichte über schwere Gewalt besonders durch die kroatische Polizei, wenn Menschen zurückgedrängt werden. Diese Gewalt beinhaltet sowohl Schlägereien als auch Raub von Kleidungsstücken, Telefonen und Schuhen; auch Frauen und Kinder sind betroffen.

Der nächste Ort ist Bihac. Wir waren noch nicht dort, aber die viele der Geflüchteten/Migranten sind hier. Bald soll hier ein offizielles Camp für ca. 1.000 Menschen entstehen, aber bisher ist es nichts weiter als ein leerer Rohbau namens Borici Camp, das früher mal ein Studentenwohnheim war aber dann verlassen wurde. Das Gebäude ist so heruntergekommen, dass es Löcher in den Böden hat, durch die Menschen fallen, und Treppen ohne Geländer.

“Offizielles Lager” Borici in Bihac, photo credits: Balkan Insights

Es wird vom Bosnischen Roten Kreuz betrieben und ist auch für Familien geöffnet, die aus Sarajevo dorthin geschickt werden. Auch von hier aus versuchen Menschen die westliche Grenze nach Kroatien zu überqueren. Auf den ersten Blick scheint das nicht viel Sinn zu ergeben, weil der Weg durch das feindliche Kroatien viel länger ist, doch weil die Grenze bei V. Kladusa so stark überwacht wird, müssen die Menschen ihr Glück anderswo versuchen. Es gibt Berichte über eine große Schlägerei zwischen verschiedenen Ethnizitäten vor einigen Tagen, nach der die Polizei Menschen wegschickte. Diese Berichte kamen aus Velika Kladusa, wo einige Menschen hingeschickt wurden. Die meisten Menschen kehrten jedoch direkt nach Bihac zurück. Die Bedingungen im offiziellen Camp in Bihac sind besser für Familien, da es dort angeblich medizinische Unterstützung gibt und die Menschen nicht in Sommerzelten auf schlammigen Feldern campen müssen.

Ein weiterer Ort des Geschehens ist Mostar, das weiter im Südwesten von Bosnien liegt. Dort gibt es ein sogenanntes Empfangszentrum namens Salakovac mit einem offiziellen Camp. Auch von hier aus versuchen Menschen die Grenze zu überqueren. Außerdem gibt es dort viele Kinder, weil die Einrichtung für Familien bestimmt ist.

In Delijas gibt es ein Camp und offenes Empfangszentrum für alleinreisende Männer, das einen Ruheplatz und medizinische Versorgung anbietet. Solange Delijas nicht voll ist, können IOM, UNHCR und die bosnischen Behörden sagen, dass noch Platz in den Camps ist. Es ist 3 Stunden von der nächsten Bushaltestelle und eine Stunde vom nächsten kleineren Laden entfernt. Zusätzlich dazu muss man berücksichtigen, dass es praktisch kein Telefonnetz gibt, sodass es unmöglich ist, mit der Familie zu kommunizieren oder anderweitig Informationen zu erhalten.

credits fuer Korrektur und Uebersetzung an J. Schley, Berlin