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#FreeTheMoria6 – Nach dem Brand im Moria Camp: Forderung nach einem fairen und transparenten Prozess für die angeklagten Moria 6 auf der Grundlage der Unschuldsvermutung!

Statement auf Englisch, Griechisch, Deutsch, Farsi, Französisch, Spanisch veröffentlicht unter: https://freethemoria6.noblogs.org/

#FreeTheMoria6 – Nach dem Brand im Moria Camp: Forderung nach einem fairen und transparenten Prozess für die angeklagten Moria 6 auf der Grundlage der Unschuldsvermutung!

Am 11. Juni 2021 findet auf der griechischen Insel Chios der Prozess gegen vier der sechs jugendlichen Migranten statt, die beschuldigt werden, das Camp Moria niedergebrannt zu haben. Vom Moment ihrer Verhaftung an und vor dem Start eines ordentlichen Gerichtsverfahrens wurden sie in der Öffentlichkeit als Schuldige präsentiert. Zwei mitangeklagte Minderjährige wurden bereits im März zu Gefängnisstrafen verurteilt, trotz mangelnder Beweise und einem von Unregelmäßigkeiten durchzogenen Gerichtsverfahren.

Wir sind zutiefst besorgt darüber, dass ihr Recht auf einen fairen und gerechten Prozess, basierend auf der Unschuldsvermutung, nicht gewährleistet ist und sie stattdessen zu Sündenböcken für die unmenschliche EU-Migrationspolitik gemacht werden. Wir stehen in Solidarität mit den Moria 6 und gegen das tödliche europäische Grenzregime!

Am 8. September 2020 brannte – angefacht durch einen starken Wind – das berüchtigte Camp Moria auf der griechischen Insel Lesbos vollständig ab. Die großflächigen und langanhaltenden Brände, die gut dokumentiert und nahezu live über soziale Medien übertragen wurden, brachten die anhaltende Politik der Abschreckung durch unmenschliche Bedingungen in Europas Hotspot-Lagern in der Ägäis zurück in das mediale Rampenlicht. (Fußnote 1)

Anstatt das Feuer als unvermeidliche Katastrophe in einer tödlichen Lagerinfrastruktur zu sehen, verhaftete der griechische Staat sechs junge afghanische Migranten und präsentierte sie als die Schuldigen und alleinige Auslöser des Feuers womit versucht wurde, eine weitere öffentliche Debatte über die Lebensbedingungen im Lager und die politische Verantwortung im Keim zu ersticken. Die Brände ereigneten sich zu einer Zeit, als die Zahl der im Lager lebenden Menschen 12.000 erreicht hatte, Bewegungseinschränkungen seit fast sechs Monaten in Kraft waren und sich eine wachsende Angst vor Covid-19 im Lager ausbreitete. Eine Woche vor dem Brand war die erste Person positiv getestet worden. Anstatt die infizierten Menschen aus dem Lager zu bringen und die Lebensbedingungen für die Eingeschlossenen zu verbessern, plante die Regierung, das gesamte Lager mit einem doppelten Nato-Hochsicherheitszaun komplett abzuriegeln und ging gewaltsam gegen jeden Protest vor. (Fußnote 2)

Die Behörden leugnen nicht nur jegliche Verantwortung, es besteht auch Grund zur Annahme, dass die Angeklagten keinen fairen und gerechten Prozess erwarten können. Sie wurden von den Behörden vom Moment ihrer Verhaftung an als schuldig dargestellt. Der griechische Minister für Migration und Asyl erklärte nur eine Woche nach dem Brand, dass “das Lager von sechs afghanischen Flüchtlingen in Brand gesetzt wurde, die verhaftet wurden”, was ihr Recht auf einen fairen Prozess unter der Unschuldsvermutung verletzt. Fünf der Moria 6 waren minderjährig, als sie verhaftet wurden, aber nur zwei von ihnen wurden vom griechischen Staat als solche anerkannt und infolgedessen nach dem Jugendstrafrecht behandelt.

Die Befürchtungen von Prozessbeobachtenden haben sich bereits bewahrheitet, als die beiden offiziell als Minderjährige anerkannten Personen im März 2021 vor Gericht standen. Zu diesem Zeitpunkt befanden sich die beiden bereits seit fast sechs Monaten in Untersuchungshaft, der gesetzlichen Höchstdauer für Minderjährige, und hätten folglich bald entlassen werden müssen. In einer eilig einberufenen Gerichtsverhandlung, die grundlegende prozessuale Standards der Fairness missachtete (Fußnote 3), wurden sie trotz fehlender Beweise für schuldig befunden und zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt.

Der Fall der Moria 6 ist nicht das erste Mal, dass MigrantInnen in Griechenland willkürlich verhaftet und angeklagt wurden (siehe den Fall der Moria 35). Diese Praxis ist schon lange Teil des unmenschlichen EU-Grenzregimes. Im aktuellen politischen Umfeld hat die Kriminalisierung von Migration jedoch eine neue Stufe erreicht, ebenso wie die illegalen Pushbacks von MigrantInnen durch die Behörden.

Wir fordern einen fairen und transparenten Prozess am 11. Juni!

Wir stehen in Solidarität mit den Moria 6 und gegen das tödliche europäische Grenzregime!

Wir fordern die EU und den griechischen Staat auf, Verantwortung für die unmenschlichen Lager, die sie mutwillig geschaffen haben, und für das menschliche Leid, das daraus resultiert, zu übernehmen!
– Stoppt die Abschottung der Menschen am Rande der EU!
– Schluss mit dem EU-Türkei-Deal!
– No more Morias!
– Free the Moria 6!

++ Unterschreibt den Aufruf, teilt  die Infos, organisiert Solidaritätsaktionen unter dem Hashtag #FreeTheMoria6 ++

Alle Gruppen und Initiativen, die unterschreiben wollen, schicken bitte bis spätestens 5. Juni 2021 eine E-Mail an freethemoria6@riseup.net

[Lesbos] Erneute Verurteilung eines Geflüchteten als “Schmuggler” zu 146 Jahren Haft

Wir teilen einen Artikel von boderline-europe (https://www.borderline-europe.de/unsere-arbeit/lesbos-mohamad-h-zu-146-jahren-haft-verurteilt?l=en):

Prozessbericht – Lesbos: Mohamad H. zu 146 Jahren Haft verurteilt

Am Donnerstag, den 13. Mai 2021, wurde der Geflüchtete Mohamad H. vom Gericht in Mytilene, Lesbos, zu 146 Jahren Gefängnis verurteilt. Das Urteil wurde gefällt, obwohl weitere Geflüchtete, die mit im Boot saßen, im Zeug*innenstand erschienen und aussagten, dass sie Mohamad ihr Leben verdanken. Die Anwälte werden Berufung einlegen.

“Warum haben Sie nicht einfach ein Ticket gekauft und sind mit der Fähre nach Griechenland gekommen?” – In dieser einen einzige Frage des Richters an Mohamad wird auf schockierende Weise die Absurdität, der grausamen Zynismus und die völlige Realitätsferne deutlich, die den Verhaftungen und anschließenden Prozessen gegen Schutzsuchende als “Schmuggler” in Griechenland, aber auch überall sonst, zugrunde liegen.

Am Donnerstag, den 13. Mai 2021, fand in Mytilene auf Lesbos der Prozess gegen den 27-jährigen Geflüchteten Mohamad H. statt. Wie bereits berichtet, wurde Mohamad H. im Dezember 2020 direkt nach seiner Ankunft als “Fahrer” des Bootes, mit dem er und 33 weitere Passagiere versuchten, Griechenland zu erreichen, verhaftet, und damit des “Transports von Drittstaatsangehörigen ohne Einreiseerlaubnis in griechisches Hoheitsgebiet” (Schmuggel) angeklagt, mit den erschwerenden Umständen der Gefährdung des Lebens von 31 Personen und der Verschuldung des Todes von zwei Personen. Als das Boot in Seenot geriet, hatte er versucht, es irgendwie sicher an Land zu steuern und das Leben aller an Bord zu retten, obwohl er selbst Geflüchteter und keine Erfahrung in der Seefahrt hatte. Tragischerweise kenterte das Boot und zwei Frauen starben (mehr lesen).

Bei der Verhandlung erschienen acht Personen, die mit Mohamad H. im selben Boot waren, vor Gericht, um für ihn auszusagen. Zwei von ihnen wurden als Zeugen zugelassen. Sie gaben an, dass Mohamad einer von ihnen ist, der nur versucht hat, das Leben aller zu retten, dass der Schmuggler ein türkischer Mann war, der sie im Meer zurückgelassen hat und dass der Schiffbruch durch die Handlungen des Schmugglers und der türkischen Küstenwache verursacht wurde, die sie nicht gerettet hat, obwohl sie um Hilfe gerufen haben.

Der Richter jedoch bestand auf der Tatsache, dass in der Vorverhandlung zwei Zeug*innen den Angeklagten als “Fahrer” angegeben hatten, obwohl die Verteidigung darauf hinwies, dass die Übersetzung während der Vorverhandlung problematisch war, da sie auf Englisch und nicht auf Somali stattfand, sowie auf die Tatsache, dass die Zeug*innen den Angeklagten nicht als den Schmuggler, sondern eben als die Person, die das Boot in einer Notsituation fuhr, identifiziert hatten.

Auch Mohamad H. wiederholte noch einmal, dass er selbst Geflüchteter und nicht der Schmuggler sei. Er erklärte, dass er gar nicht wisse, wie man ein Boot steuere und es auch nicht steuern wollte und dass er das Steuer nur deswegen übernommen habe, um sich und seine Mitreisenden vor dem Ertrinken zu retten. Er tat dies, ohne zu wissen, dass das bloße Steuern nach griechischem Recht ein Verbrechen darstellt.

Hierauf entgegnete der Richter mit der Frage: “Wie ist es möglich, dass Sie nicht wussten, dass das, was Sie taten, illegal war? Warum haben Sie dann nicht einfach ein Ticket gekauft und sind mit der Fähre nach Griechenland gekommen?”

Angesichts der Tatsache, dass es keine sicheren und legalen Wege gibt, nach Europa einzureisen und Asyl zu beantragen, ist diese Frage nicht nur grotesk und völlig realitätsfremd, sondern zynisch und grausam. Es ist die europäische Politik der Abschreckung und der geschlossenen Grenzen, die Menschen in seeuntaugliche Boote und auf lebensgefährliche Routen und dazu zwingt, ihr Leben und das ihrer Familien zu riskieren. Vielleicht sollte jemand dem Gericht erklären, wie das europäische Ayslsystem funktioniert, bevor es einen Schutzsuchenden zu 146 Jahren verurteilt, weil er “nicht einfach ein Ticket gekauft und mit der Fähre nach Griechenland gekommen ist”.

Die Staatsanwaltschaft forderte, Mohamad H. nur für das Verbrechen des Artikels 30- Abs. 1 Punkt a. (Gesetz 4251/2014) schuldig zu sprechen: “Transport von Drittstaatsangehörigen ohne Einreiseerlaubnis in griechisches Hoheitsgebiet”. Dennoch bestanden die Richter auf der ursprünglichen Anklage, Mohamad H. auch der erschwerenden Umstände (Punkte c und d des Artikels 30) schuldig zu sprechen – “Gefährdung des Lebens von Menschen” und “Verschuldung des Todes”. Sie akzeptierten den mildernden Umstand, dass Mohamad keine Vorstrafen hat, was dazu führte, dass die lebenslangen Haftstrafen sowie die Geldstrafe entfielen. Im Detail verhängten sie 15 Jahre Haft für jede verstorbene Person (2 Frauen) und 8 Jahre für jede Person an Bord (31 Personen). Einem Prinzip folgend, das im griechischen Recht “Zusammenlegung von Strafen” genannt wird, resultiere dies in einem Urteil von 146 Jahren.

Die Verteidigung, die Anwälte Dimitris Choulis und Alexandros Georgoulis, werden Berufung gegen das Urteil einlegen.

 

[Moria6] Podcast zum Fall und Prozess der Moria 6

Hier findet ihr den am 30.04.2021 zuerst ausgetrahlten Podcast zum Fall und Prozess der Moria 6 zum Nachhören.

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YOU CAN’T EVICT SOLIDARITY, ein Podcast für grenzenlose Solidarität | Folge 1: Die Moria 6 – erste Verurteilungen nach den Bränden im Lager Moria im September 2020

(Sollte er nicht vollständig abspielen, findet ihr ihn auch nochmal hier: https://www.radiostimme.at/still-in-solidarity-ii-gerichtsprozess-zum-brand-in-moria/)

Mit dieser Folge startet der Podcast der Antirepressions-Kampagne You can’t evict solidarity mit der ersten Folge im Stadtradio Göttingen!
Nachdem im September 2020 das europäische Hotspot-Lager Moria auf Lesvos komplett niederbrannte, wurden willkürlich 6 Jugendliche verhaftet. Zwei von ihnen wurden nun ein Jahr später ohne jegliche Beweise verurteilt.
Wir sprechen über die katastrophalen Zustände im Lager, über die Brände im September 2020, über die menschenverachtenden Abschottungs- und Einsperrpolitiken der EU und des griechischen Staates, über Proteste und Widerstände der Betroffenen und über die krassen Repressionen, die willkürlich gegen Geflüchtete verhängt werden.

You can’t evict solidarity ist eine Antirepressions-Kampagne, die Menschen auf der Flucht nach Fällen staatlicher oder anderer institutioneller Repression unterstützt. Mehr Infos findet ihr auf dem Blog cantevictsolidarity.noblogs.org

Hier findet ihr den Song “Dead Rabbits” und das Video von Mohammed Hussein: https://www.youtube.com/watch?v=QNCxVVT2FK8

Den Sampler “The Balkan Route” vom NoBorders Music Collective mit den Tracks “Fuck Being A Refugee” von Amine Oucheri, Anon & Kasoz und “Dile Min Biaxiva (Kurdish Cowboy Version)” von Salman Duski findet ihr hier: https://musicnoborders.bandcamp.com/

Den Track “Να κάνουμε έφοδο” von Daisy Chain könnt ihr euch hier anhören: https://daisychaingr.bandcamp.com/

[Presseerklärung vom 26.4.2021] Skandalöse Verurteilung eines syrischen Geflüchteten auf der griechischen Insel Lesbos zu 52 Jahren Haft +++ Prozessbeobachter_innen kritisieren die Kriminalisierung von Flucht scharf

Presseerklärung der Initiativen “You Can`t Evict Solidarity”, Christian Peacemaker Teams (CPT) – Aegean Migrant Solidarity und borderline-europe, 26.04.2021

Skandalöse Verurteilung eines syrischen Geflüchteten auf der griechischen Insel Lesbos zu 52 Jahren Haft +++ Prozessbeobachter_innen kritisieren die Kriminalisierung von Flucht scharf

Am Freitag, den 23. April 2021, fand in Mytilini auf der griechischen Insel Lesbos der Prozess gegen K. S., einen jungen, aus Syrien geflüchteten Mann, statt. Er wurde wegen “unerlaubter Einreise” und “Beihilfe zur illegalen Einreise” zu 52 Jahren Haft verurteilt. Prozessbeobachter_innen der Initiativen “You Can`t Evict Solidarity”, Christian Peacemaker Teams (CPT) – Aegean Migrant Solidarity und borderline-europe bewerten das Urteil als Skandal. Sie kritisieren das unfaire Verfahren und fordern erneut die sofortige Freilassung des Angeklagten.

Wie er im Prozess schilderte, floh der Angeklagte K. S. mit seiner Familie vor dem Bürgerkrieg in Syrien in die Türkei. Dort weigerte er sich, an dem türkischen Militäreinsatz im Bürgerkrieg in Libyen teilzunehmen, und wurde daraufhin inhaftiert und gefoltert. Es gelang ihm mit seiner Frau und seinen drei kleinen Kindern weiter bis in die EU zu fliehen. Als die Familie die griechische Insel Chios Anfang März 2020 erreichte, wurde ihnen wie allen Menschen, die zu dieser Zeit in Griechenland ankamen, das Recht auf Asyl für einen Monat verweigert. Der Hintergrund, der im Prozess auch von einer Zeugin von CPT – Aegean Migrant Solidarity geschildert wurde, ist, dass der griechische Staat im Rahmen einer politischen Auseinandersetzung zwischen der Türkei und der EU das Recht auf Asyl rechtswidrig ausgesetzt hatte und systematisch Strafanzeigen wegen “illegaler Einreise” gegen Migrantinnen und Migranten erhob, die in Europa um Schutz suchten. Zusätzlich wurde K.S. nach der Ankunft zu Unrecht beschuldigt das Boot, mit dem er und seine Familie auf Chios ankamen gesteuert zu haben und zusätzlich wegen “Beihilfe zur illegalen Einreise” sowie dem “Herbeiführen eines Schiffsunfalls” angeklagt.

Ein Prozessbeobachter erklärt zu den Hintergründen der Anklage: “Die Erhebung solcher Anklagen gegen auf den griechischen Inseln ankommenden Migrant_innen, die angeblich als Bootsfahrer identifiziert wurden, ist seit einigen Jahren ein systematisches Vorgehen des griechischen Staates. Sie beruht auf der absurden Vorstellung, dass jeder, der ein Schlauchboot mit Schutzsuchenden fährt, ein Schmuggler ist. Oft sind die Beschuldigten selbst Schutzsuchende und wurden zum Fahren des Bootes genötigt. In der Praxis bedeutet die Verfolgung von “Schmugglern”, dass jemandem aus einem ankommenden Schlauchboot angeklagt wird, das Boot gefahren zu haben, ob er es nun war oder nicht. Sie werden ohne ausreichende Beweise meist noch vor Ort verhaftet und monatelang in Untersuchungshaft verwahrt. Wenn ihr Fall schließlich vor Gericht kommt, dauern ihre Prozesse im Durchschnitt nur 38 Minuten, und sie werden zu hohen Haftstrafen verurteilt, in einigen Fällen zu über 100 Jahren Gefängnis mit sehr hohen Geldstrafen. Für die Anklagepunkte, die gegen K.S. erhoben wurden, beträgt die durchschnittliche Strafe 93 Jahre. Diese Verfahren laufen nicht fair und rechtsstaatlich ab. Uns sind Hunderte solcher Fälle bekannt von Menschen, die wegen diesen Vorwürfen in griechischen Gefängnissen sitzen, wie ein Bericht von CPT – Aegean Migrant Solidarity, borderline-europe und Deportation Monitoring Aegean zeigt (1). Zuletzt wurden u.a. im vergangenen Jahr die beiden Geflüchteten Amir und Razouli im Rahmen eines solchen Verfahrens zu 50 Jahren Haft verurteilt und warten nun im griechischen Gefängnis auf ihren Berufungsverhandlung im März 2022 (2).”

Nach über einem Jahr Untersuchungshaft und nachdem das Verfahren kurzfristig auf Freitag, den 23.04.2021, verschoben worden war, wurde der Angeklagte K.S. in nur wenigen Stunden wegen “unerlaubter Einreise” und als Schlepper (“Beihilfe zur illegalen Einreise” zu 52 Jahren Haft verurteilt (10 Jahre plus ein Jahr für jede Person auf dem Boot). Zusätzlich wurde eine Geldstrafe von 242.000 Euro verhängt. Dieses hohe Strafmaß wurde verhängt, obwohl er von den Anklagepunkten “Herbeiführen eines Schiffsunfalls” und “Widerstand” freigesprochen wurde.

K.S. wurde nicht wegen seiner Schuld an den “Verbrechen”, für die er angeklagt war, verurteilt, sondern stellvertretend, um die Migration nach Europa im Allgemeinen zu verurteilen. K.S. war abfälligen Äußerungen des Gerichts ausgesetzt, wurde über seinen muslimischen Glauben befragt und gefragt, warum er nicht in Syrien geblieben sei, um für sein Land zu kämpfen. Der Prozess war von großen Unregelmäßigkeiten durchsetzt. So basierte die Anklage der Staatsanwaltschaft auf widersprüchliche Listen über die Anzahl der Menschen auf dem Boot. Der Hauptzeuge der Anklage, ein Offizier der Küstenwache, sagte sehr detailliert aus, machte aber keine Aussage zu der wichtigen Frage, ob er den Angeklagten beim Fahren des Bootes gesehen hatte. Im Gegenzug sagte die Frau des Angeklagten als Zeugin aus und bestätigte, dass er das Boot nicht gefahren hat. Als der Offizier der Küstenwache am Ende seiner Zeugenaussage erklärte, dass K.S. freigelassen werden sollte, weil er aus einem Kriegsgebiet geflohen sei, entgegnete der Staatsanwalt, dass er in der Türkei hätte bleiben können – unfassbar, da K.S. dort inhaftiert und gefoltert worden war.

Seine Anwältin und sein Anwalt vom Legal Center Lesbos legten sofort nach dem Urteil Berufung ein. K.S. muss die Zeit bis zur Berufungsverhandlung (vermutlich in etwa einem Jahr) wieder im berüchtigten Gefängis Korydallos auf dem griechischen Festland verbringen.

Johannes Körner von der Kampagne “You can`t evict Solidarity” erklärte zum Urteil:

“Wir sowie die Initiativen CPT – Aegean Migrant Solidarity und borderline.europe werden den Angeklagten weiterhin solidarisch unterstützen. Wir fordern Griechenland und die Europäische Union auf, die willkürliche Inhaftierung von Geflüchteten und Migrant_innen sofort zu beenden sowie den Freispruch und die sofortige Freilassung des Angeklagten. Außerdem müssen die noch ausstehenden derartigen Prozesse fallengelassen werden – oder zumindest vor einem anderen Gericht als dem voreingenommenen  Gericht in Mytilini verhandelt werden.”

Ein Mitglied des Christian Peacemaker Teams – Aegean Migrant Solidarity ergänzt:

“Migrant_innen, die in Europa Zuflucht suchen und des Verbrechens der Beihilfe zur illegalen Einreise angeklagt sind, können offensichtlich nicht erwarten, dass sie vor dem Gericht in Mytilini einen fairen Prozess erhalten. K.S. wurde verurteilt, ohne dass Beweise vorlagen, die ihn eindeutig identifizierten. Dies ist bezeichnend für ein Justizsystem, das den lautstarken Teil der lokalen Gesellschaft bedient, der einen Sündenbock für die Migration auf die Insel sucht.”

Pressekontakt:

Johannes Körner: cantevictsolidarity@riseup.net

1) https://bordermonitoring.eu/wp-content/uploads/2020/12/report-2020-smuggling-en_web.pdf

2) https://www.borderline-europe.de/unsere-arbeit/solidarit%C3%A4tsstatement-freiheit-f%C3%BCr-amir-und-razuli?l=de

[Pressemitteilung vom 20.04.2021] Flucht ist kein Verbrechen: Drohende Verurteilung eines syrischen Geflüchteten nach Prozess auf Lesbos zu jahrzehntelanger Haft

Pressemitteilung der Initiativen “You Can`t Evict Solidarity”, CPT – Aegean Migrant Solidarity und borderline-europe, 20.04.2021

Flucht ist kein Verbrechen: Drohende Verurteilung eines syrischen Geflüchteten nach Prozess auf Lesbos zu jahrzehntelanger Haft +++ Die Initiativen “You Can`t Evict Solidarity”, CPT – Aegean Migrant Solidarity und borderline-europe fordern den Freispruch und die sofortige Freilassung des Angeklagten

Griechenland/Deutschland. Am morgigen Mittwoch, den 21. April 2021, findet in Mytilini auf der griechischen Insel Lesbos der Prozess gegen K. S., einen jungen, aus Syrien geflüchteten Mann, statt. Ihm werden “unerlaubter Einreise”, “Menschenhandel” und “Gefährdung von Menschenleben” vorgeworfen, bei einer Verurteilung drohen ihm mehrere Jahrzehnte Haft. Die Initiativen “You Can`t Evict Solidarity”, CPT – Aegean Migrant Solidarity und borderline-europe fordern den Freispruch und die sofortige Freilassung des Angeklagten.

Der Angeklagte K. S. floh mit seiner Familie vor dem Bürgerkrieg in Syrien in die Türkei. Dort weigerte er sich, an dem türkischen Militäreinsatz im Bürgerkrieg in Libyen teilzunehmen, und wurde daraufhin inhaftiert und gefoltert.  Es gelang ihm mit seiner Frau und seinen drei Kindern (vier, sechs und sieben Jahre alt) weiter bis in die EU zu fliehen. Als die Familie die griechische Insel Chios Anfang März 2020 erreichte, wurde ihnen wie allen Menschen, die zu dieser Zeit in Griechenland ankamen, das Recht auf Asyl für einen Monat verweigert. Der griechische Staat hatte im Rahmen einer politischen Auseinandersetzung zwischen der Türkei und der EU das Recht auf Asyl rechtswidrig ausgesetzt und systematisch Strafanzeigen wegen “illegaler Einreise” gegen Migrantinnen und Migranten erhoben, die in Europa um Schutz suchten.

Zusätzlich wurde K.S. nach der Ankunft zu Unrecht beschuldigt das Boot, mit dem er und seine Familie auf Chios ankamen gesteuert zu haben. Er wird nun nicht nur wegen “unerlaubter Einreise”, sondern auch, was noch schwerer wiegt, wegen “Menschhandel” und “Gefährdung von Menschenleben” angeklagt.

Die Erhebung solcher Anklagen gegen auf den griechischen Inseln ankommenden Migranten, die angeblich als Bootsfahrer identifiziert wurden, ist seit einigen Jahren ein systematisches Vorgehen des griechischen Staates. Sie beruht auf der absurden Vorstellung, dass jeder, der ein Schlauchboot mit Schutzsuchenden fährt, ein Schmuggler ist. Oft sind die Beschuldigten selbst Schutzsuchende und wurden zum Fahren des Bootes genötigt. In der Praxis bedeutet die Verfolgung von “Schmugglern”, dass jemandem aus einem ankommenden Schlauchboot angeklagt wird, das Boot gefahren zu haben, ob er es nun war oder nicht. Sie werden ohne ausreichende Beweise meist noch vor Ort verhaftet und monatelang in Untersuchungshaft verwahrt. Wenn ihr Fall schließlich vor Gericht kommt, dauern ihre Prozesse im Durchschnitt nur 38 Minuten, und sie werden zu hohen Haftstrafen verurteilt, in einigen Fällen zu über 100 Jahren Gefängnis mit sehr hohen Geldstrafen. Für die Anklagepunkte, die gegen K.S. erhoben wurden, beträgt die durchschnittliche Strafe 93 Jahre.

Diese Verfahren laufen aus Sicht von unabhängigen Prozessbeobachter_innen nicht fair und rechtsstaatlich ab. Es sind Hunderte solcher Fälle bekannt von Menschen, die wegen diesen Vorwürfen in griechischen Gefängnissen sitzen, wie ein Bericht von CPT – Aegean Migrant Solidarity, borderline-europe und Deportation Monitoring Aegean zeigt (1). Zuletzt wurden u.a. im vergangenen Jahr die beiden Geflüchteten Amir und Razouli im Rahmen eines solchen Verfahrens zu 50 Jahren Haft verurteilt und warten nun im griechischen Gefängnis auf ihren Berufungsverhandlung im März 2022 (2).

Der Angeklagte K.S. ist nun seit über einem Jahr in Untersuchungshaft im griechischen Gefängnis Korydallos auf dem Festland. Er wird beim Prozess zum ersten Mal seine Kinder und seine Frau wiedersehen, die in einem Camp in der Nähe von Athen leben. Seine Frau wird als Zeugin aussagen und bestätigen, dass er das Boot nicht gesteuert hat. Außerdem wird eine Zeugin, eine Wissenschaftlerin, die im Bereich  Anthropologie an der Universität der Ägäis forscht und bei dem Christian Peacemaker Teams (CPT) – Aegean Migrant Solidarity arbeitet als Expertin über den politischen Kontext aussagen, in dem K.S. von der Türkei nach Griechenland übergesetzt ist. Juristisch wird er von einer Anwältin und einem Anwalt vom Legal Center Lesbos vertreten.

Die Initiativen “You can`t evict Solidarity”, CPT – Aegean Migrant Solidarity und borderline-europe werden den Prozess solidarisch begleiten. Sie fordern Griechenland und die Europäische Union auf, die willkürliche Inhaftierung von Flüchtlingen und Migranten sofort zu beenden sowie den Freispruch und die sofortige Freilassung des Angeklagten.

Pressekontakt:

Johannes Körner: cantevictsolidarity@riseu

1) https://bordermonitoring.eu/wp-content/uploads/2020/12/report-2020-smuggling-en_web.pdf

2) https://www.borderline-europe.de/unsere-arbeit/solidarit%C3%A4tsstatement-freiheit-f%C3%BCr-amir-und-razuli?l=de

[Moria 6] Presseberichte und Radiobeitrag

Folgende Presseberichte und Interviews von uns zum aktuellen Prozess und dem Urteil gegen zwei der Moria 6 auf Lesbos vom 9.3.2021 haben wir gesammelt:

Fragt uns gerne an für Interviews, aktuelle Informationen und Artikel unter cantevictsolidarity@riseup.net. Wir freuen uns über eure Unterstützung.

[Lesbos] Untragbares Gerichtsurteil – Willkürliche Verurteilung zweier Geflüchteter für den Brand im Moria-Lager

Gerechtigkeit für die Moria 6!

Für eine detailliertere Darstellung des Prozessverlaufs siehe auch den Beitrag der Anwält*innen vom Legal Centre Lesvos: https://legalcentrelesvos.org/2021/03/09/justice-for-the-moria-6/

Am 9. März 2021 wurden A.A. und M.H. auf der Insel Lesbos wegen Brandstiftung mit Gefährdung von Menschenleben schuldig gesprochen und auf zu 5 Jahren Haft verurteilt. Zweieinhalb Jahre der Haftstrafe werden sie im Gefängnis von Avlona auf dem griechischen Festland absitzen müssen.

Die beiden jungen Männer waren als Asylsuchende aus Afghanistan nach Lesvos gekommen und zum Zeitpunkt ihrer Verhaftung vergangenen Jahres gerade 17 Jahre alt. Sie wurden festgenommen, nachdem das Lager Moria am 8. September 2020 vollständig niedergebrannt war, und sechs Monate lang in Untersuchungshaft festgehalten.

Der gestrige Gerichtsprozess war von Unregelmäßigkeiten durchzogen und hat zentrale rechtsstaatliche Prinzipien der Fairness und Unschuldsvermutung verletzt. Bereits vor Beginn des Verfahrens war klar, dass die beiden Angeklagten schuldig gesprochen werden würden. Sie wurden in ein politisiertes Spiel geworfen, in dem sie als Sündenbock für den Brand des Lagers herhalten solltenen. Durch ihre Verurteilung wird von der Verantwortung der EU und des griechischen Staats für die katastrophalen Zuständen in den europäischen Hotspot Lagern abgelenkt, die durch den Brand erneut mediale Sichtbarkeit bekamen.

Während des Prozesses wurden solidarische Unterstützer*innen und Freund*innen der Angklagten vor dem Gerichtsgebäude von der Polizei weggeschickt, angezeigt und mit weiteren Repression bedroht. Aus “Sicherheitsgründen”  durften sie den Gerichtssaal nicht betreten –  angeblich, um die Identität der Angeklagten im Jugendgericht zu schützen – wohingegen allerdings 5-7 Polizeibeamte ständig im Gerichtssaal anwesend waren. Außerdem kam es zu Schikanierungen von Unterstützer*innen beim Warten vor dem Gericht. Einige müssen nun für ihre bloße Anwesenheit 300 Euro Strafe zahlen. Am Tag zuvor, an dem die Verhandlung eröffnet und gleich darauf verschoben wurde, wurde eine Person auf die Polizeiwache gebracht und ihre persönlichen Sachen durchsucht.

Obwohl viele Freund*innene und Verwandte der Angeklagten gekommen waren, um zu bezeugen, dass diese den Brand nicht gelegt hatten,  durften lediglich zwei Zeug*innen der Verteidigung an der Verhandlung teilnehmen. Auf der Seite der Kläger sagten 17 Zeug*innen gegen die Angeklagten aus, konnten jedoch keine stichhaltigen Beweise gegen diese vorlegen

Der Hauptzeuge – der Sprecher der afghanischen Community – dessen Aussage zur Verhaftung der zwei Angeklagten geführt hatte, erschien nicht zum Prozess und konnte von den Behörden  nicht ausfindig gemacht werden. Dennoch wurde seine schriftliche Aussage als glaubwürdig erachtet.

Die meisten anderen Zeug*innen sagten nur über persönliche Verluste durch den Brand aus, die nicht direkt mit den Angeklagten in Verbindung standen. Lediglich zwei Polizeibeamte behaupteten, die Angeklagten anhand eines Videos identifiziert zu haben, das zwei Personen mit ähnlicher Kleidung von hinten zeigt. Sie widersprachen sich jedoch in ihren Aussagen und beschrieben einen der Angeklagten als “winzig und klein”, während sich im Gericht zeigte, dass dieser tatsächlich wesentlich größer als der aussagende Polizist selbst ist.

Am Ende wurden die Angeklagten zumindest vom Vorwurf der “Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung” freigesprochen – die gemeinsam mit dem Brandstiftungs-Vorwurf eine Strafe von 15 Jahren hätte bedeuten können. Ihre Anwält*innen des Legal Centre Lesvos werden zudem gegen das Urteil Berufung einlegen. 

Nichtsdestotrotz ist die Verurteilung der beiden ein weiteres empörendes Beispiel, wie Menschen auf der Flucht kriminalisiert werden, um von den Verantwortlichkeiten derer abzulenken, die die Existenz eines Lagers wie Moria und des neuen Camps “Kara Tepe” überhaupt erst möglich machen. Wir haben es satt, einen Fall nach dem anderen zu beobachten, bei dem Migrant*innen willkürlich verhaftet, geschlagen, gedemütigt, inhaftiert und von der sogenannten “Rechtsstaat” zu Gefängnisstrafen verurteilt werden. Diese Taktik ist ebenso durchschaubar und lächerlich wie sie gewalttätig, rassistisch und widerlich ist. Diejenigen, die dafür mit ihrem Leben bezahlen müssen, sind Menschen die ihr Recht auf Bewegungsfreiheit wahrnehmen und als Konsequenz entrechtet und bestraft werden. 

Wie schon so oft, wenn wir Gerichtsverfahren gegen Menschen auf der Flucht verfolgen, sind wir traurig und wütend. Der 9. März war ein schrecklicher Tag für alle, die sich für Gerechtigkeit und Gleichheit einsetzen. Aber wir müssen weiter kämpfen. 

Die noch folgenden Gerichtsprozesse für vier weitere Personen, die für Brandstiftung in Moria angeklagt sind, werden vermutlich ebenfalls bald stattfinden. Die beiden Verurteilten, A.A. und M.H., werden Berufung gegen das Urteil einlegen. 

Wir müssen diese Infos verbreiten, sie den Verantwortlichen ins Gesicht schreien: denen, die die Hotspot-Lager und den EU-Türkei-Deal geschaffen haben, denen, die die Lager am Laufen halten und denen, die vom System des Rassismus und der Ungleichheit profitieren.

Freiheit für die Moria 6!

[Lesbos] Freiheit für die inhaftierten Moria6 – Griechischer Staat eröffnet Prozess gegen zwei der sechs Angeklagten nach dem Brand in Moria 2020

Freiheit für die inhaftierten Moria6 – Griechischer Staat eröffnet Prozess gegen zwei der sechs Angeklagten nach dem Brand in Moria 2020

Heute, am 8. März, eröffnete das Gericht von Mytilini, Lesvos, den Prozess gegen zwei junge Männer aus Afghanistan. Die beiden kamen als unbegleitete Minderjährige nach Griechenland und waren zum Zeitpunkt ihrer Verhaftung erst 17 Jahre alt. Sie gehören zu der Gruppe von sechs Personen, die wegen “Brandstiftung mit Lebensgefahr” angeklagt sind und die nach den Ereignissen vom 8. September 2020, als das Lager Moria bis auf die Grundmauern niederbrannte, festgenommen wurden.

Die beiden Angeklagten, die als Minderjährige verhaftet wurden, sitzen mittlerweile seit fast sechs Monaten in Untersuchungshaft – die maximale Zeit für Untersuchungshaft von Minderjährigen. Das Gericht hat mehrere Zeugen für den Prozess mobilisiert, darunter die Lagerleitung, die Polizei und Bewohner des Dorfes Moria. Die Überwachung des Prozesses wird durch die starke Polizeipräsenz vor dem Gericht und die strengen und unverhältnismäßigen Bewegungseinschränkungen wegen des Covidvirus unmöglich gemacht. Da die Angeklagten zum Zeitpunkt ihrer Verhaftung minderjährig waren, ist der Prozess zudem für die Öffentlichkeit gesperrt.

Der Prozess hat heute offiziell begonnen, wurde aber sofort unterbrochen, weil einer der Angeklagten krank ist und Fieber hat, und wurde aber nur auf morgen vertagt.

Bisher hat die Staatsanwaltschaft keine glaubhaften Beweise gegen einen der sechs Angeklagten vorgelegt, die darauf hindeuten, dass sie in irgendeiner Weise an dem verzweifelten Akt des Widerstands beteiligt waren, die mehrfachen Brände zu legen, die schließlich den unmenschlichen europäischen Hotspot, das Lager Moria, zerstörten. Es scheint jedoch, dass die Behörden darauf aus sind, sie zum Sündenbock für Europas tödliche Grenzpolitik zu machen.

Es gibt nur einen Zeugen gegen alle 6 Angeklagten – einen der afghanischen Anführer im Lager Moria. Es ist eine gängige Praxis der Polizei auf Lesbos, Anführer durch die Androhung von Verhaftung oder im Austausch gegen Vorteile wie die Erlaubnis, die Insel verlassen zu dürfen, dazu zu bringen Informationen weiter zu geben. Die Angeklagten gehören der schiitischen Minderheit der Hazara an, die seit jeher gewaltsamer Verfolgung und systematischer Diskriminierung durch die tadschikische und paschtu-sunnitische Mehrheit entlang von Klassen-, Rassen- und Religionsgrenzen ausgesetzt ist. Der einzige Zeuge gegen sie ist Pashtu.

Fünf der Angeklagten waren zum Zeitpunkt ihrer Verhaftung minderjährig, der sechste war erst 18 Jahre alt. Drei der fünf Minderjährigen waren jedoch bei ihrer Ankunft in Griechenland unrechtmäßig als Erwachsene registriert worden. Die drei legten dem Gericht nach ihrer Verhaftung Originalausweise vor, aus denen ihr tatsächliches Alter hervorging, und beantragten Alterseinschätzungen durch medizinische Fachleute. Trotzdem wurden die Dokumente als gefälscht zurückgewiesen und der staatliche medizinische Prüfer bewertete sie als Erwachsene, und sie wurden weiterhin vom griechischen Staat als Erwachsene behandelt.
Die beiden Angeklagten, die morgen vor Gericht stehen, sind die beiden, die zum Zeitpunkt ihrer Verhaftung als Minderjährige anerkannt waren.

Es ist wahrscheinlich, dass die Fakten vor Gericht keine Rolle spielen werden. Der griechische Staat ist entschlossen, jemanden zu finden, der schuldig ist, Europas Pilotprojekt des “Hot-Spot”-Modells der Inhaftierung, der Einsperrung auf den Inseln unter höllischen Bedingungen und der Abschiebung niederzubrennen. Die staatlichen Behörden hatten ihre Schuld schon lange vor einem Prozess festgestellt. Der Minister für Migration und Asyl, Notis Mitarakis, erklärte in einem Interview mit CNN am 16. September 2020: “Das Lager wurde von sechs afghanischen Flüchtlingen angezündet, die verhaftet worden sind.” Auf eine Frage nach dem Wohlergehen der unbegleiteten Minderjährigen, die durch das Feuer obdachlos geworden waren, antwortete Mitarakis, dass zwei Minderjährige zusammen mit vier anderen laut Polizeiaufnahmen verhaftet worden seien, weil sie das Feuer verursacht hätten, und dass “der Grund, warum sie das Feuer verursacht haben, war, die griechische und andere Regierungen zu erpressen, damit sie aus Moria wegziehen.” [https://www.youtube.com/watch?v=52lWG65Wbq4]

Die Bilder des brennenden Lagers wurden in den internationalen Medien verbreitet und machten einmal mehr auf die grausamen und unmenschlichen Bedingungen aufmerksam, denen die Menschen in den griechischen Flüchtlingslagern ausgesetzt sind. Das Feuer wurde zum Symbol für das Leid und die menschenunwürdige Behandlung von Flüchtlingen am Rande Europas. Er zeigte nicht nur die Grausamkeit des europäischen Grenzregimes, sondern auch das katastrophale Versagen des griechischen Staates, Migranten Schutz zu gewähren und seiner Rolle als “Schutzschild Europas”, die der EU-Kommissar Griechenland im März 2020 zugewiesen hat, nicht gerecht zu werden.

Bislang haben zahlreiche weitere Fälle gezeigt, dass der griechische Staat die Gelegenheit nutzt, Flüchtlinge, die für Proteste verantwortlich gemacht werden, ohne Beweise zu langen Haftstrafen zu verurteilen. So wurden bereits im Sommer 2017 die Moria 35 nach großen Protesten im Lager Moria willkürlich auf der Grundlage von Racial Profiling verhaftet und neun Monate später vor dem Obersten Gericht von Chios verurteilt. In ähnlichen Fällen, wie dem der Verhaftungen der Moria 8, wurden die willkürlich Angeklagten schließlich freigesprochen, aber zuvor monatelang in Untersuchungshaft gehalten.

Wir werden nicht akzeptieren, dass die Leben von sechs jungen Menschen, die schutzsuchend nach Europa kamen, zerstört werden! Wir werden nicht zulassen, dass der Staat und die Medien sie zu dem Sündenbock für die Brutalität und Grausamkeit der europäischen Grenzpolitik der Lagerhaltung machen! Wir fordern Freiheit für alle Angeklagten!

Unterstützt die Moria 6! Ihr Kampf ist unser Kampf!

[Greece] Sentenced to 50 years in prison – Freedom for Amir & Razuli

Originalartikel: https://www.borderline-europe.de/unsere-arbeit/solidarit%C3%A4tsstatement-freiheit-f%C3%BCr-amir-und-razuli

Sentenced to 50 years in prison – Freedom for Amir & Razuli

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When Amir and Razuli tried to reach Greece on a rubber boat in March 2020, they were attacked by the Greek coast guard who tried to push them back to Turkey by force. The attack caused the boat to sink and the coast guard had to take them on board. Amir and Razuli were arbitrarily charged with “facilitating illegal entry” and “provoking a shipwreck”, in addition to their own entry. On the 8th of September 2020 they were sentenced to 50 years in prison.

Amir and Razuli, 25 and 23, fled from Afghanistan trying to reach Europe in search of a life in safety. With Europe’s ever-increasing closure of borders and the lack of safe and legal ways to enter Europe and claim asylum, they were forced to embark on the dangerous journey on a rubber boat across the Aegean Sea. Amongst the other people in the boat was also Amir’s young daughter and his heavily pregnant wife.*

They made their journey in March 2020, the month in which the Greek government announced the suspension of one of the most fundamental human rights – the right to apply for asylum -, and consequently charged people seeking protection with their own “illegal entry”, blatantly contradicting EU law and the Geneva Convention.

The Greek coast guard attacked the boat as soon as they had entered Greek waters and tried to push it back into Turkish waters using metal poles. In doing so, they punctured the boat, causing water to enter and putting the life of the people onboard at risk.


In the past months, numerous reports emerged bearing testimony to the Greek coast guard’s illegal and cruel practice of violent pushbacks, destroying the engine of refugee boats, disabling the boats, and then leaving the people to their fate in the middle of the sea. Read more about this in the New York Times, the Deutsche Welle and the Spiegel.


As the boat was about to sink, the coast guard eventually took them on board.

Following this deeply traumatizing experience, the coast guard proceeded with heavily beating up Amir and Razuli, arbitrarily accusing the two of being the smugglers. According to Amir’s wife who had to witness all of this together with her daughter, they only stopped when she held up their young child in front of her husband begging the men to stop.

As soon as they arrived at the Greek island of Lesbos, Amir and Razuli were separated from the rest of the group and brought to the police station. The coast guard accused them of their own entry, of facilitating the unauthorized entry of the other people on the boat and of having endangered the people’s lives.

They were since held in pre-trial detention and sentenced to 50 years in prison on 8th of September 2020. Although there is no evidence against them except for the statement of the coast guards, they were only acquitted of the accusation of “provoking a shipwreck”.

We are calling for the release of Amir and Razuli and all charges against them to be dropped!

Almost every day, people seeking protection are criminalized for their own flight and arbitrarily sentenced to lengthy prison terms and heavy fines (see e.g. the case of Hamza and Mohamed). Suspects, or what we would deem ‘victims’ of this unjust legislation, usually have limited access to legal assistance. Judgments are often pronounced despite lack of evidence and poor quality of translation. In Greece, the average trial lasts only around 30 minutes, leading to an average sentence of 44 years and fines over 370.000 Euro. According to official numbers by the Greek ministry of justice, almost 2.000 people are currently in Greek prisons for this reason. However, the fates of these people are seldom known. Arrested immediately upon arrival, most of them are locked away unnoticed, without their names known and no access to support from outside.

But we know the story of Amir and Razuli. We have organized legal defense for them, and we will fight for their acquittal in the appeal trial!

Help us to make their story known!

The European Union must stop the arbitrary incarceration of refugees and migrants!
——-
*Amir’s wife has meanwhile given birth to their second child. After the trial, Amir met his two-month-old baby for the first time and as he held his child for the first time in his arms, the police shouted at him to give the infant back to the mother, causing his family extreme distress.

SUPPORT US IN OUR FIGHT AGAINST CRIMINALISATION: https://www.betterplace.org/de/projects/79969-solidarisch-gegen-die-kriminalisierung-von-flucht-und-migration


26 October 2020

Spendenaufruf „No Nation No Border Just People“ für die Menschen aus dem abgebrannten Camp Moria

Spendenaufruf „No Nation No Border Just People“ für die Menschen aus dem abgebrannten Camp Moria

Moria ist niedergebrannt. Es brannte in der ersten Nacht an mehreren Stellen – angefacht durch einen starken Wind – zum großen Teil und in der folgenden Nacht dann vollständig ab. Jahrelang haben die Politiker_innen Europas weggeschaut. Als unvermeidliche Folge der fremdenfeindlichen, rassistischen und unmenschlichen Politik in Europa sind 15.000 Frauen, Kinder und Männer obdachlos geworden. Wenn Katastrophen wie diese in anderen Teilen der Welt geschähen, würde den Menschen sofort vor Ort geholfen. In Lesbos wissen wir, dass diese Katastrophe mehr Repression, Gewalt und Aktivitäten der organisierten Rechten bedeutet.

Das Camp Moria war von Anfang an (absichtlich) unmenschlich und es wurde immer schlimmer. Das Camp und die umliegenden Olivenhaine sind ein einziges großes Freiluftgefängnis für Migrant_innen. Das Coronavirus verschlechterte die Bedingungen nur noch weiter. Bereits seit März 2020 befanden sich die Menschen aus dem Camp im Lockdown. Letzte Woche wurde der erste Covid-Fall im Lager registriert, und weitere folgten. Die Bedingungen in Moria sind ungeeignet für soziale Distanz, angemessene Hygiene oder andere Anti-Covid-Maßnahmen, die wir im übrigen Europa als selbstverständlich annehmen. 15.000 Menschen wussten, wo sie zurückgelassen werden.

Zunächst brannte der leere Bereich, in denen die mit Corona-Infizierten und ihre Kontakt-Personen isoliert werden sollten. Die verständliche Forderung lautete: bringt die an Covid-19 erkrankten Menschen in ein Krankenhaus oder zumindest weg vom Camp. Von der Regierung war stattdessen eine große Doppelzaun-Anlage um das gesamte Camp geplant.

Als Teile der Olivenhaine rund um das Lager – in denen Menschen in Zelten und selbstgebauten Unterkünften lebten – zu brennen begannen, reagierte Polizei und Feuerwehr nicht. Erst als die Container von IOM, der Agentur, die die “freiwillige Abschiebung” organisiert, brannte, reagierte die Polizei – mit Tränengas. Und erst als das ganze Camp in Flammen stand, durften die Migrant_innen fliehen. Aber nicht bis in die nächste nur 8 km entfernte Stadt Mytilini. Jetzt sitzen die Menschen seit Tagen auf einer Straße fest und die Polizei blockiert sie von allen Seiten.

Zusätzlich zur Polizei haben die aufgebrachte Bevölkerung und Faschist_innen – genau wie schon im März diesen Jahres – begonnen, Migrant_innen und solidarische Menschen aggressiv zu verfolgen, einzuschüchtern und zu schikanieren. Sie patrouillieren auf Motorrädern durch die Stadt und ihre Umgebung.

Aus Fotos und Videos lässt sich das Ausmaß der Katastrophe ablesen. Der griechische Staat reagiert wie üblich: ein für vier Monate ausgerufener Ausnahmezustand auf Lesbos, was mehr Polizei und Militär auf der Insel bedeutet. Es wurde ein neues provisorisches geschlossenes Lager für 5000 Menschen errichtet. Während einige Hundert Migrant_innen dort bereits wohnen, versammeln sich aufgebrachte Inselbewohner_innen unterstützt durch die organisierte Rechte in der Nähe.

In den ersten Tagen sah das Militär sich nicht im Stande, die Menschen mit Wasser und Essen zu versorgen und bat NGOs um Hilfe. Selbst große NGOs sind aufgrund der Situation vollkommen handlungsunfähig – oder wollen nicht handeln, wie das UNHCR, das erst aktiv werden will, wenn die chaotische Situation beendet ist und alle wieder an einem Ort sind.

Trotz der Widrigkeiten, die sich uns entgegenstellen, werden wir so gut wir können, die dort festsitzenden Menschen unterstützen. Während die Politik diskutiert, sind es, wie in Idomeni 2015, wir, die sofort handeln und Wasser, Essen, Windeln, Kleidung verteilen. Wir, das sind unter anderem die No Border Kitchen Lesbos und WISH Lesbos (Women in Solidarity House). Dazu benötigen wir weiterhin eure Spenden unter dem Stichwort „Just people“ !!!

Ein neues Lager ist keine Lösung: Evakuierung der griechischen Inseln sofort!

In Solidarität, die YouCantEvictSolidarity-Kampagne

https://cantevictsolidarity.noblogs.org/

Spendenkonto:
Kontoinhaber*in: VVN/BdA Hannover
Verwendungszweck: just people (Verwendungszweck beachten!)
IBAN: DE67 250 100 3000 4086 1305
Bank: Postbank Hannover, BIC: PBNKDEFFXXX